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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1904)
DOI Artikel:
Schultze, K.: Hebbels Tragik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0087

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Der Lebensprozeß ist nur der, daß das Jndividuum ein inneres
Motiv zur Tat werden läßt; das ist der Ausdruck seiner Freiheit;
diese Tat aber „entbindet" eine äußere Begebenheit; das ist der Aus-
druck der Notwendigkeit des Weltwillens, eine Antwort der Jdee auf
die Tat des Jndividuums. Solange sich Tat und Begebenheit die
Wage halten, solange besteht das Jndividuum und verfährt seinem,
von der Jdee gesetzten Zwecke gemäß; wird aber der Wille des Jndi-
viduums maßlos, sodaß auch seine Tat maßlos wird, so entbindet diese
Tat eine Begebenheit, die dem Jndividuum sozusagen „über den
Kopf wächst" und es vernichtet. Damit korrigiert sich die Welt selbst.

Eine Versöhnung im Jndividuum ist darnach ausgeschlossen, es
kann ja gar nicht anders als maßlos wollen, die Versöhnung liegt
lediglich in der Jdee. Die Jdee wird zur Harmonie zurückgesührt
durch den Tod des maßlosen Jndividuums; denn es beseitigt das
Mangelhafte, die Erscheinung macht Platz für neue, bessere, die in
der Richtung einer unendlichen Entwicklung zu einer unendlichen Voll-
kommenheit liegen.

Es ist somit auch klar, daß nicht angegeben werden kann, was
nun der ganze Jnhalt der sittlichen Jdee ist. Denn sie ist unendlich
und endlichen Wesen nicht bestimmbar. Die jeweilige „Moral" hat
immer nur eine relative Berechtigung als Verwirklichung der Jdee.

Daraus ergibt sich für das Jndividuum als sittlicher Grundsatz
einzig und allein dieses: „Tu du das deine, was du für recht hültst,
die Jdee wird dann das ihre tun." Das ist keineswegs gleichbedeutend
mit: „Handle wie du magst", sondern schließt der ganzen Anlage dieser
Weltanschauung nach die Verpflichtung ein, sich zu einer Persönlich-
keit zu vertiefen und mit der ganzen Kraft der Persönlichkeit auf
das Ziel hinzustreben, das man als das rechte erkannt hat.

Für den Dichter aber ergibt sich nun als Ausgabe, diesen Welt-
prozeß darzustellen „in seiner reinsten Form und in seinem höchsten
Gehalt". Das Drama muß die ewige Wahrheit wiederholen, „daß
das Leben als Vereinzelung, die nicht maßzuhalten weiß, die Schuld
nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwendig und wesentlich mit
einschließt und bedingt". Jndem so das Drama an dies unerbittliche
Sein verwiesen ist, das es im Werden aufdecken soll, ist auch klar,
daß die Charaktere des Dramas werdende sein müssen, daß in ihm
sich das' ewige Spiel wiederholen muß, in welchem der persönliche
Wille der Notwendigkeit des Weltwillens erliegt; die Ausdehnung des
eigenen Willens entbindet Gewalten, deren das Jndividuum nicht mehr
Herr werden kann.

Der Dichter muß die poetischen Charaktere zusammenführen,
damit sie sich durcheinander entwickeln und ineinander abspiegeln und
so gemeinschaftlich ihr bedingendes Schicksal erzeugen. Jn der Not-
wendigkeit dieses Schicksals, daß es Vorstufe ist für eine höhere Ent-
wicklung, liegt die Versöhnung im Drama, wie im Leben.

„Die Kunst ist nur eine höhere Art von Tod; sie hat mit dem
Tode, der auch das Mangelhafte, der Jdee gegenüber, durch sich selbst
vernichtet, dasselbe Geschäft." Daran schließt sich die Forderung, daß
das Drama historisch im weitesten Sinne sein soll, der Leser oder Zu-
schauer eines Dramas steht zwischen zwei Bühnen, auf denen die gleiche

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