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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 4 (2. Novemberheft 1904)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwart für 1905, [2]: Literatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0210

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Bogelweide, Wolframs „Parzival" und Gottfrieds von Straßburg
„Trislau uud Jsolde" fowie eiuzelne Lieder aus des Miunesaugs Frühling in
Betrachr kommeu. Wer die Ursprache lesen kaun, findet brauchbare Ausgabsn
unter Franz Pseiffers „Deutfchen Klasfikern des Mittelalrers^ und in der
Hallischen „Altdeutschen Textbibliolbck". Von Ueberfetzuugen sind für die drei
erften Werke immer noch öie vou Simrock alleu andern oorzuziehen; „Par--
zioal" uud „Triftan" hat Wilhelm tzertz trefflich übertrageu. Jm Notfall
genügt auch Reclam, der jetzt alle die genannten Werke sührt.

Zu dem Grundstock eruer größeren Bibliothek der deulschen Nationallite-
ratur gehören uusrer Meinung uach die Volkslieder, Volksmärchen und
Volksbücher. Von dcu Volkslieder-Ausgaben ift die vorzügliche Uhlandsche
(bei Cotta) billig zu haben, Reclam hat „Des Knabsn Wunderhorn". Die
Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen" findet man gleichfalls vollständig
bei diesem und ebenfo die Volksbücher in der Schwabschen Bearbeitung —
beide Werke kornmen vor allem auch für die Jugeud in Betracht. Von alt
und juug nicht zu vergesfen sind oie „Deutfchen Sagen"' von Grimm.

Aus dem Reformationszeitalter hat vornehmlich Luther Anspruch auf
Berücksichtigung; rver's kann, sollte fich feine „Gesamtwerke" erwerben, zumal
wenn er selber gelegentlich „schreiben" muß — man glaubt gar nicht, wie viel
aus diesem erften Klasfiker deutscher Prosa zu gewinnen ift. Hans Sachs
macht auch immer wieder Freude, Fifchart dagegen erfordert schon einen
befondern Geschmack. Das poetisch beste Werk des Reformationszeitalters
ift wohl der Reineke Vos — den haben wir bei Goethe, aber ein Nieder-
deutscher wird ihn auch in der Ursvrache lesen wollen, etwa in den Ausgaben
von Hoffmann von Fallersleben oder Fr. Pricn. Ueber die weiteren wich-
tigeren Bücher aus diesem Gcbiet wolle man den Abschnitt „Germaniftik"
nachlesen.

Das Kirchenlied von Luther bis auf Paul Gerhardt und weiter
hiuaus bieten uns unsere Gesangbücher — leider allerdings oft nicht mehr und
noch nicht wieder in der alten kernigen Form. Sonft lebt aus der Opitzischen
Periode wenig mehr, einige wenige Lyrik, die man in den bessern Anthologieen
findet, einiges Epigrammatifche. Aber der ecfte wiiklich lesbare deutsche Roman
fällt in diese Zeit; Grim m eI shausen s „Simplicissimus", ja, alle, „fimpli-
cianischen Schriften", die H. Kurz herausgegeben hat, sind, obwohl manche derb
im Srile der Zeit, noch durchaus genießbar und nicht blos aus kulturhistorischem
Jnteresse.

Johann Christian Günther ift dcr erste neuere deutfche Lyriker,
in defsen Gedichten eigenes volles Leben fteckt, absr man dringt nicht leicht
dazu durch, oder vielmehr, es fehlt noch die uns hevte zum Gcnuß uuentbehr-
liche lyrische Form, weswegen die neue Auswahl aus Günther von W. v. Scholz
sehr richtigerweise nur „Strophen" bringt. Die Haller, Hagedorn, Gellert,
Gleim bieten den Anspruchsvolleren, wenn wir ehrlich sein wollcn, nicht mehr
viel — die Jugend und das „Volk" wird noch einzelnes, besonders von Gellert
genießen; wenn wir andercn das tun, fo tun wir's, indem wir die Sachen
der alten Herren in anderm Sinne nehmen, als fie gegeben find, nämlich in-
dem wir uns an ihrem Zeiiftil nach seinem Kuriofitätenwerte ergötzen. Jn
Klopftocks „Oden" dann und wann zu bläitern, empfiehlt fich schon, weil
inhaltlich wie formell vieles Spütere auf fie zurückgeht; wer selbft Stimmungs-
krast hat, dem wird zudem Klopftock noch heute ftark entgegenkommen. Clau-
dius, Hölty und Bürger dann find mit ihren Gedichten in manchem sogar
unübertroffen geblieben — Lem Claudius mit feiner wunderfumen Jnnigkeit
sagen wir fogar etwas wie eine Auferstehung in der Liebe unfrer Beften voraus.
Lesfing lebt mit seinen drei Meifterdramen, Wieland mit dem „OberonZ
Herder mit dem „Cid" und den „Stimmen der Völker" — die prosaischen
Schriften Lessings, die für ihre Zeit so große Fortfchritte bedeutcten, find hin-
fichtlich ihres Gehalts an Erkenntnissen, wie hinsichtlich ihrer Methode heute
nur noch historisch wertvoll, während Herder immer noch ein merkwürdig
lebensvoller Anreger sein kann. Zu Möser und Engel greifen wir wegen
einiger prosaischer Kabinetstücke, in Lichtenberg findcn wir mehr als einen
„Witzbold", nämlich einen der klarsten Köpfe und besten Profaisten (Aphoristiker),
die wir je gehabt haben. Die Stürmer und Dränger wird noch lesen, wer
besondere Teilnahme für eine gährende Jugend hat — von Lenz fcheinen uns

2. Novemberheft (fiOH <79
 
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