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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
DOI Artikel:
Anthes, Otto: Der deutsche Aufsatz und die künstlerische Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0463

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ich sonst noch sein. Natürlich mnß er mir das sein, wenn ich ein
Pedant bin und vielleicht eine Stillehre geschrieben habe; aber nicht
dann, wenn ich diesen Dichter liebe, wie er geliebt zu werden verdient.
Dann ist es eben sein Satzbau, der zu ihm gehört, er ist ein Teil
von ihm und ich möchte ihn nicht anders haben. Es handelt sich ja
auch gar nicht darum, ob der Schüler diesen persönlichen Stil des
einen oder anderen nachahmen soll. Oder vielmehr, es handelt sich
gerade darum, daß er ihn nicht nachahmen soll. Er soll überhaupt
nicht nachahmen. Er soll auch seinen Stil schreiben oder wenigstens
die Anlagen dazu entwickeln. Und diese Anlagen zu einem eigenen
Stil hat von Hause aus jedes Kind. Jn jeder Familie, jedem Ge-
sellschaftskreis, in jeder Standes- und Berufsgenossenschaft gibt es
Eigentümlichkeiten der Ausdrucksweise, die das Kind gewissermaßen
mit der Muttermilch einsaugt, und die in der Wechselwirkung mit
den besonderen individuellen Eigentümlichkeiten des Kindes, seiner
mehr heiteren oder mehr ernsten, mehr verständigen oder mehr phan-
tastischen usw. Sinnesart wieder ihre besondere persönliche Ausprä-
gung bekommen und die Ansätze zu einem persönlichen Stil enthalten.

Hier sind die Handhaben für die entwickelnde Arbeit der Schule
gegeben. Statt dessen fangen wir gleich unten in der Schule an,
dem Kind diese Neigung zu einem eigenen Stil auszntreiben. Wenn
es etwas in seiner kindlichen, meinetwegen oft unbeholfenen Art erzählt
hat, so beschränken wir uns nicht etwa darauf, seine Fehler der An-
schauung zu korrigieren — das wäre unsere einzige Aufgabe
dabei —; nein, wir korrigieren seinen Ausdruck, natürlich ins Er-
wachsene. Wie töricht wir dabei versahren, zeigt nichts deutlicher als
die Rubrik unserer Zeitungen: Aussatzkuriosa. Vollständiger Unsinn
steht nie in einem solchen, der Verösfentlichung gewürdigten „Aussatz".
Das würde ja nicht ergötzen, das wäre höchstens traurig. Nein, was
uns amüsiert, ist die echt kindliche Ausdrucksweise, die um so mehr
Lachen erregt, je weiter sie von unserer erwachsenen Ausdrucksweise
entfernt ist. Alle diese Aufsätze sind also eigentlich gut; gut als Auf-
sätze und nicht als Witze. Der Witz dabei ist vielmehr das, daß wir
sie bloß komisch finden. Das ist sogar ein kapitaler Witz. Ein Ge-
schichtchen: Meine kleine Tochter hatte mich öfter über den Mittwoch
stöhnen hören, der ein sehr arbeitsreicher Tag für mich war. Einmal
kommt sie und sagt: „Nicht, Vater, der Mittwoch ist der dickste Tag
in der Woche?" Jch habe mich kindisch gesreut. Aber ich hätte ein-
mal sehen mögen, was geschehen wäre, wenn das Wurm im gegebenen
Falle diese Weisheit in einem Schulaufsatz vorgebracht hätte. Ob
man es gefragt hätte, wie es das meine; woher es diese Vorstellung
habe; und ob man ihm dann um dieser kostbaren Plastik des Aus-
drucks willen eine Eins gegeben hätte.

Nach alledem ist es ohne weiteres klar, daß ich weder Freude
haben kann an einleitenden Formübungen, die den Jnhalts-
übungen vorangehen; wie es noch der Referent über unfer Thema
auf dem Weimarer Kunsterziehungstag vorschlug. Noch auch für die
in der Praxis unserer Schulen herrschende Methode, die das Kind
auf den: Wege über die Nachahmung zu einem freien schriftlichen
Ausdruck führen will, also auf dem Umweg über das Diktat zum

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