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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1905)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Vorleseabende
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0593

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Und müssen es denn immer Verse sein, die den Dichter beim
Publikum einführen sollen? Welches weite Feld tut sich auf, wenn
wir die erzählende Prosa berücksichtigen! Außer vielen der schon
Genannten kommen da besonders in Betracht: Jean Paul, Jeremias
Gotthels, Jmmermann, Alexis, Brüder Grimm (Märchen), Reuter,
Rosegger, Raabe, die Ebner-Eschenbach, Adols Pichler und ein ganzer
Zug modernster Erzähler. Die Fülle des Stoffes ist ja geradezu ver-
wirrend. Er kann aber wiederum nach den drei oben beobachteten
Gesichtspunkten geordnet werden.

Scheinen die Töne der einzelnen Dichter nicht mannigsaltig genug,
um ein im Zuhören ungeübtes Publikum anderthalb Stunden ohne
großen Zwang zu fesseln, so schiebt man zwischen die beiden Leseteile
des Programms ein bißchen Sang und Klang ein. Fast alle die ange-
führten Dichter sind von den Musikern sleißig vertont worden; sncht
man also beispielsweise zum Hebbel-Programm noch drei oder vier
Kompositionen Hebbelscher Gedichte, so kommt auch der ungeduldigste
Hörer auf seine Kosten.

Diese musikalischen Einschiebsel wachsen sich vielleicht dann und
wann zu ganzen Abenden aus, sei es nun zu einem Dichter- oder
einem Tondichterabend. Jn dem einen Falle müßten alle Gesänge
von einem einzigen Poeten, im andern alle Musikstücke von einem
einzigen Komponisten herrühren. Da tritt an die Stelle des Vor-
lesers der Sänger oder der Klavierspieler und Geiger, wohl gar Trio-
und Streichquartett-Künstler. So würde das Vorbild des Dichter-
abends segensreich nachgeahmt, um auch den Musikern das „Durch-
dringen" zu erleichtern.

Wie das Publikum den Schauspieler gern als Menschen kennen
lernt, so hört es auch den Schöpsungen des Dichters und Musikers
eifriger zu, wenn es etwas von ihren Lebensumständen weiß. Mir
scheint es sür unsre Aufgaben gleich, ob hierin eine Stärke oder eine
Schwüche des Publikums liegt; denn liegt eine Schwäche darin, so
dürsen wir sie doch sicher des guten Zweckes halber hier benutzen.
Deshalb tun die Vereine gut, den Dichter- und Tondichterabenden
(nach dem Vorgehen der Berliner Schillertheater-Veranstaltungen) eine
biographische Skizze aus berufenem Munde vorauszuschicken. Wenn
die Hörer vorher die Bekanntschast Friederikens von Sesenheim und
Mariannens von Willemer gemacht haben, so lauschen sie nachher auf-
merksamer dem Liede „Es schlug mein Herz: geschwind zu Pferde!"
nnd den Suleikapoesieen des west-östlichen Divans. Und wem wird
die spröde Hebbelsche Poesie nicht vertrauter, wenn er des Dichters
Werdegang kennt?

Jch glaube, daß auch literarische Vereine, wenn sie nicht grade
eine bestimmte, eng umgrenzte Aufgabe Haben, mit meinen Allerwelts-
programmen einverstanden sein können. Freilich habe ich gar manche
Feinschmeckerkost noch in der Speisekammer, die ich bisher nur im eigenen
Hause den guten Freunden auftafelte. Dahin rechne ich z. B. „Gott-und-
Welt"-Gedichte Goethes, Hebbels, Kellers; dahin Goethes überreichen
Aussatz „Die Natur", einige der „sieben Legenden" Kellers, Friedrich
Theodor Vischers „Tragische Geschichte einer Zigarrenschachtel", Nietz-



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