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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 9 (1. Februarheft 1905)
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Nissen, Benedikt Momme: Die mittlere Linie, [1]: zur heutigen deutschen Kunstlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0660

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obwalten: die mongoloide Schädelform ist in Frankreich bekanntlich
sehr verbreitet. Solchen fremdgeistigen Einflüssen sich hinzugeben, steht
Deutschen nicht an. Sie bedürfen nicht äußerlich übernommener, son-
dern innerlich errungener Klarheit. Es ist endlich Zeit, echte und falsche
Moderne zu scheiden. Davon hört man bisher in Berlin, dem Sammel-
bassin der jetzigen deutschen Kunstkritik, nichts. Man kann dort die mitt-
lere Linie der Moderne nicht finden. Angeblich marschieren dort Genie-
kunst und Modekunst, Deutschtum und Parisertum fröhlich miteinander
unter der jetzt neu gehißten Flagge der „Eigenart". So treibt dte
moderne Kunst dahin ohne inneres Steuer, festgeklammert an das
jeweilige Programm (Bayersdorfer).

Der deutsche Geist befindet sich heute in Notwehr gegenüber der
ungeheuerlichen Hinausschraubung eines Manet. Ein Kunstkondottiere,
der sich zu den großen Klassikern der Malerei stellt wie ein Pizarro zu
den Peruanern, sollte für uns Deutsche gar nicht diskutabel iein. Gei-
stige Minderwertigkeit, wenn sie sich als „geistige Oberschicht" mas-
kiert, ist nur um so stärker zu bekämpfen. Die Maske herunter!

L. ^ernpersrnent uncl Ralkul

Fixsterne und Trabanten soll man nicht verwechseln. Böcklin,
Thoma, Leibl und andere Kernnaturen, kurz die Genialen, Originalen
sind die Echtmodernen. Sie wurzeln in sich. Auch der schnellste Nach-
läufer wird die stetig strömende Schaffenskraft des Genius nie
einholen — Liebermann nie Rembrandt. Dieser ruht, jener
rennt. Den fundamentalen Jrrtum der Falschmoderne deckt ein Wort
Thomas auf: „alles Kunstschaffen beruht auf einem Stillesein der
Seele". Denn jene hat keine zeugungskräftige Seele und noch weniger
ist selbe still. Nur der ebene Spiegel ergibt ein klares, der unebenL
stets ein Zerrbild. An diesem Punkte scheidet sich echte und salsche
Malerei, echte und salsche Moderne. Jnnere Unruhe kennzeichnet diese.

Sogar künstlerische Grundbegriffe, wie Temperament usw. wendet
sie nach französischer, nicht nach deutscher Sinnesart an. Temperament,
im deutschen Sinne, ist eine besondere Art von Naturell. Es ist sozu-
sagen warmes, bewegtes Naturell. Nach französischer Anschauungsweise
kann „Temperament" kalt oder warm sein, nach deutscher ist es stets
warm. Das Naturell des französischen Malers ist durchweg kühl; ein
gesühl- und „temperamentvoller" Maler, im deutschen Sinne, ist Manet
nimmer. Nicht aus Jmpression, sondern aus Expression kommt es
an, aus Ausdruck. Der große Mißgriff der Falschmodernen ist: daß
sie Nervosität an die Stelle von Seele setzen wollen, gesetzt haben.
Eben dadurch kommen sie zu dem bekannten Programm des Hexen-
chors im Macbeth: Schön ist häßlich, häßlich schön. Seelisch vibrie-
rende Farbe ist und bleibt der höchste Reiz aller Malerei; die Farbe
der Pointillisten aber vibriert nur sinnlich, nicht seelisch. Sie schaffen
mit dem Kops, nicht mit dem Herzen. Die Trugmoderne will das
Temperament — deutsch gesaßt, ist es die Grundlage aller Kunst —
durch Kalkul ersetzen. Diesen, der nur Mittel sein darf, macht sie zum
Zweck. Das ist ihre Erbsünde. Die ganze Falschmoderne ist auf ent-
arteten Kalkul gebaut. Temperamentkunst oder Kalkulkunst? Seelen-
kunst oder Gehirnkunst? Volkskunst oder Gourmandkunst? Jeder heutige



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