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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1905)
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Nodnagel, Ernst Otto: Gustav Mahler
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0667

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Ranges" —, sie sind ruhig, aber von größter Bestimmtheit und Energie.
Dabei sind sie ungemein ausdrucksvoll und wirken in ihrer unbe-
fangenen Sachgemäßheit etwa wie eine graphische Darstellung der
Komposition. Ja ich kann mich der Vorstellung nicht erwehren, ein
Taubgeborener, dessen Nerven selbst gegen die wildesten akustischen
Ausbrüche des Mahlerschen Orchesters gefeit sind, müsfe durch den
Anblick seines Dirigierens mehr, als bloß einen Genuß für das Auge
haben, müsse beinahe imstande sein, aus dieser optischen Ueber-
mittelung die Musik zu verstehen.

So exzentrisch Mahlers Persönlichkeit bei oberflächlicher Beob-
achtung erscheinen, soviel psychologische Verwandtschaft mit einem
Berlioz oder einem Kapellmeister Kreisler man auch bei ihm fest-
stellen mag, kraft seines klaren freien Kunstverstandes hat er sich doch
über beide Phasen des Romantiker-Typus hinaus entwickelt zu einer
harmonischen Persönlichkeit.

Sein künstlerischer Stammvater ist Franz Schubert, mit dem
er die Unersättlichkeit seiner Melodik, die sich nimmer genug tun kann,
und ihre hinreißende Jnnigkeit gemein hat. Auch bei ihm ist das
Schumannsche Wort von der „himmlischen Länge" oft angebracht; seit
Schubert sind nicht viele Melodiker dagewesen, die einen so langen
Faden so stark zu spinnen gewußt hätten.

Sein Lehrer aber war Anton Bruckner, und viele wollen in
dem Schaffen des Jüngers den Meister so sehr wiedererkennen, daß
sie Mahler als dessen Epigonen oder gar als seinen Nachahmer be-
zeichnen. Das scheint mir durchaus irrig; ich glaube vielmehr, daß
Mahlers Schaffen gleichsam in das Lot eines Dreiecks zwischen
Schubert, Bruckner und Berlioz fällt. Das von dem genialen Fran-
zosen in die geschichtliche Entwicklung geworfene symbolistische Fer-
ment mußte eine Gärung hervorrusen, zu einer reinlichen Scheidung
führen: Entweder Symbolismus oder Festhalten und Weiterent-
wickeln der überlieferten Form. Beides miteinander zu vereinigen
war unmöglich. Der Symbolismus mußte und muß sich seine Form
von Fall zu Fall neu schaffen, die hergebrachte Form hingegen
mußte auf die Fähigkeit solgerichtigen symbolistischen Jdeenausdrucks
verzichten. Wenn der Symbolismus den einen Pol der neueren sym-
phonischen Entwicklung bedeutet, so ist die nichtsymbolistische Sym-
phonik noch nicht der Gegenpol. Diesen haben wir vielmehr in der
Hanslickschen Konzeption des „Spieles tönend bewegter Formen", der
gegeigten und geblasenen Tapetenmuster, also der Tanzmusik im
Wagnerschen Sinne des Worts zu sehen.

Aber die ganze wertvolle Symphonik eigentlich nicht erst von
Beethoven, sondern schon vom Schöpfer dieser Form, von Haydn ab,
steht inmitten beider Pole: sie ist nicht leeres spielerisches Geklingel,
ebensowenig Darstellung von Stimmungs e n t w i ck l u n g e n, sondern
entschiedener Stimmungs a u s d r u ck.

Ju der Tat ist Bruckner in der neueren Musikgeschichte der
Künstler, mit dem Mahler die meiste Verwandtschast hat. Daß dieser
aber mehr als eine Wiederholung Bruckners, daß er ein Träger neuer
Werte ist, wird eine nähere Vergleichung zeigen. Dieser schicke ich
ausdrücklich voraus, daß ich bedauern würde, wenn man ihr eine

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