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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 9 (1. Februarheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0692

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der in Marmor vom Bildhaner, den ich auf der Stube beim Herrn Prä-
fekten gesehen habe. Wunderfchön ist dieser Heiland. Und der Heiland
muß auch ebenso schön sein wie gut. Sonst kann man ihn doch nicht
so recht lieben. Jch liebe aber Gott Vater auch. Natürlich! — Dann
ist ein Herzenskämmerlein da für Vater und Mutter. Jch liebe meine
Eltern, aber den Vater mehr als die Mutter. Das kommt vielleicht daher,
daß ich ein Junge bin. — Dann ist ein drittes Herzkämmerlein da, ein
großes und geräumiges mit schönen Büchern und mit schönen Bildern,
für den Doktor und Tante Johanna. — Für Franz Filbry und Toni Roß?
Nein, das geht nicht. Fränzchen Filbry will ich das vom Neid mitbringen,
was der Baas aus dem Vaterunser vorgelesen hat. Aber sür Franz Dickhos
ist ein Kämmerlein da. Natürlich! Auch für unsern Herrn Rektor. Aber
es ist doch etwas kalt und düster darin. Manchmal mein ich, es wür bei
ihm wie im Grabe. Aber ich liebe ihn doch, das ist wahr. Denn er
lügt niemals. Aber er meint doch alles so ganz anders als ich. Gut,
daß ich wieder denken und fühlen kann wie früher. Sonst bin ich unzu-
frieden. Jetzt weiß ich, was es heißt: von jemand besessen sein! Da ist
doch Doktor Brockhus ganz anders. Mein Gott ja! den muß ich lieben
von unten bis oben. Der versteht mich. Wie schön wir doch immer zu-
sammen reden über Gott und über die Engel. Der meint auch wie ich,
daß die Engel großen Geist haben und schöne Gedanken, und daß sie auch
so schöne Gedichte machen wie Ohm Doktor. Und Musik machen sie auch,
natürlich, sie jubilieren ja, die Engelschöre! Ja, Doktor Brockhus hat
in meinem Herzen ein wunderschönes Liebeskämmerlein. Da ist es warm,
herzenswarm — — Und das allerfeinste Kämmerlein? O Traute! Holde
Traute! Wie lieb ich dich herzinniglich! Du bist doch die einzige, mit

der ich gleich in den Himmel fliegen möchte! Wie du doch alles weißt,
so klug, so sinnig und fein! Da sagt nun der Baas, Tiere hätten keine
Seele. Als wenn Pastors Strumpel keine Seele hätte! Natürlich eine
andre Seele als wir Menschen, auch eine andre als dein Rotkehlchen und
die andern Singvögelein. Denn Strumpel kann zum Beispiel keine Musik
leiden. Dann heult er scheußlich wie andre Hunde auch, als tät ihm die

Musik weh. Jst eben eine Hundeseele! Aber Trautes Rotkehlchen und,

keine Seele haben? Der Nazarener, der versteht das besser. Traute!
Traute! wenn ich dich doch nur wiedersehen darf! Jn den letzten Wochen
warst du immer bei mir in meinem allerfeinsten Herzkämmerlein. Und
keiner vertrieb dich daraus. Und du sahst so lieb aus und so schön. Als
der Mond so hell in meine Zelle hereinschien, da sah ich dich gerade so
wie am letzten Tage, in dem weißen Kleide mit der roten Stickerei. Grüße
mir die Mutter, Traute! Wie schön! wie schön! Ach, Trante, daß ich
das Rotkehlchen habe fliegen lassen, das war doch nicht recht. Aber weißt
du, was er nicht weiß? Das Rotkehlchen ist gar nicht von hier fort-
geflogen. Es hat im Garten genistet. Und ich wußte sein Nest. Und

ich hab auch die Jungen gesehen. Und ich habe oft mit Rotkehlchen ge-
sprochen. Und es flog auch gar nicht weg, wenn ich mit ihm sprach. Aber
keiner weiß es. Nur Fritz. Aber der ist verschwiegen wie das Grab. Das
ist die einzige Lüge gegen den Rektor. Sonst war ich immer aufrichtig
gegen ihn. Denn ich glaube immer, was ich sage. Aber ich weiß jetzt,
was das heißt: Glauben! und ich weiß, was es heißt: Für wahr halten!
Jch muß aber vieles glauben, was ich nicht für wahr halten kann. Denn

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