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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 10 (2. Februarheft 1905)
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Nissen, Benedikt Momme: Die mittlere Linie, [2]: zur heutigen deutschen Kunstlage
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0719

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Minnes, der Jungwiener u. a. Künstlerischen Schmachtlappen widmen
sie eine ganz besondere Zärtlichkeit. Dabei sieht solche Kritik stets durch
die jeweilige Programmbrille. Meyer-Gräfe beispielsweise deduziert,
daß Böcklins Bilder überhaupt keine Malerei seien. Genau so sagte man
seinerzeit von Wagners Opern, daß sie keine Musik seien. Ein bekannter
Berliner Rezensent behauptet kaltlächelnd: „daß die Bilder von Stuck
nichts mit guter Malerei zu tun haben." Das kann nur sagen, wer
dieses Meisters beste Bilder nicht kennt oder wer Temperamentkunst
nicht versteht. Echtem Genie gegenüber hat sich derartiger Berliner Geist
meist verhalten wie jener Offiziersbursche, der im zoologischen Garten
erklärte: „solche Tiere gibt's ja gar nicht". Genie wird geleugnet, wenn's
nicht nach Pariser Kodex malt. Tschudi nennt die Naturbeobachtung
der Jmpressionisten und deren Malmethode „eine bei weitem größere
Phantasietat", als sie durch „sogenannte Gemüts- und Phantasiekunst"
geboten werde. Eine wahrhaft halsbrechende Logik!

Die modernen Kunsthysteriker, wie ein genialer deutscher Ge-
lehrter sie nennt, dünken sich einzig klug. Treten aber neue große Ge-
fühle auf —deren Direktive den bloßen geistigen Rechnern, den Ratio-
nalisten ihrer Zeit meist unverständlich und entgegengesetzt ist — so sinkt
das von jenen erbaute Kartenhaus des Kalkuls in nichts zusammen.
Jhnen stehen die wirklichen Kunsthistoriker: Burckhardt, Bayersdorfer,
Justi, Bode, Thode, Neumann, Wölfflin u. a. gegenüber. Durch das Fest-
stellen klassisch-historischer Kunstergebnisse richteten diese, gegenüber
modern-kritischer Zügellosigkeit, einen Damm auf. Sie drängten sich
nicht vorlaut in die Oeffentlichkeit. Ein Burckhardt mied solche sogar
konsequent. Naturen wie er gleichen dem Penseroso Michelangelos,
der den Finger an den Mund legt. „tzuiä miüi eum illis?" Sie slüchten
aus dem Lärm des Tages in die Stille der Jahrhunderte. Die abge-
klärte Geistesreise, die volle Kenntnis der kunstgeschichtlichen Tatsachen
und Gesetze, welche dort erworben wird, ist natürlicherweise die beste
Vorschule für jede Kunstkritik. Nur diesev Geistesfaktor hebt sie hinaus
über die Jahrmürkte. Die Echten sind, dem Kunstmodelärm gegenüber,
zuweilen zu jener Methode der Schweigsamkeit genötigt. Jhr „olym-
pischer Frühling" kommt oft spät. Langsam nur erkennen die Zeit-
genossen den Hochtypus. Jnzwischen lebt er als Apoll im Schlafrock —
wie Otto Ludwig, wie Spitteler.

Bayersdorfer hat als heimlicher Kunstrichter zuerst die
Kunst der zeitgenössischen Originalen, Genialen, also die der mittleren
Linie in Deutschland erkannt und gesördert. Er hat sür diese, trotz
seines vielberufenen Schweigens, mehr geleistet als Alle, die heute
über sie reden. Er ist sür sie eingetreten, als sie es „nötig hatten".
Als ein vielkundiger Doktor Faustus erschien der vornehmstille Gelehrte
bei näherem persönlichen Verkehr. Wie Mörike ein verborgenes Dichter-,
führte Bayersdorfer ein verborgenes Denkerleben. Solche Männer sind
der „Zeit" nichts und sie ist ihnen nichts. Aber gerade sie sind der
Zeit not. Gelassenheit ist ihr Schild. Aus ihrer Geistesruhe heraus
fühlen sie ties, sehen sie schars und weit. Auch wissen sie die rechten
Quellen zu finden. Nicht im Staub moderner Großstädte, sondern im
alten München, in Jtalien sammelte Bayersdorfer seine künstlerische
Weisheit. Er ist für Kritik der bildenden Kunst vorbildlich. Er ist echt.

622 Runstwart XVIII, sO
 
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