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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 11 (1. Märzheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0820

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Märchen, sondern wie eine Wirklichkeit selbst dort, und erst recht dort,
wo das scheinbar Tote, ganz und gar Hölzerne mit der größten Selbst-
verständlichkeit zum Leben aufgerufen wird. Und der dies Zauberwort
spricht, den sieht man nicht, noch hört man ihn, sondern Aug und Ohr
hangen an seinen Gestalten, die er, indem er sie erfindet und von sich
aus beseelt, doch so zu bewegen weiß, als kämen sie aus weiter Ferne,
und hätten nur eben den Weg durch ihn genommen, um zu uns und
tausend anderen weiterzugehen.

Ebenso sachlich mutet die wirkliche Welt an, in die uns Otto Ludwig
und Gottfried Keller schauen lassen. Es ist nicht nur mehr die Komik,
oder sie zuvörderst, die Ludwigs „Aus einem alten Schulmeisterleben"
uns in der Angstszene seiner Musikanten auf dem Scheunendache vor Augen
führt, die er fühlen lassen will, sondern ein wenig „Fnrcht und Mitleid"
wird mit aufgerührt, wenn durch die komischen Nöte der drangsalierten
armen Teufel die Jämmerlichkeit ihrer Existenz in ein grelles Schlaglicht
gerückt erscheint. Jn Kellers Charakteristik der unvergleichlichen Jungfer
Züs Bünzlin aus den „gerechten Kammmachern" gar haben wir ein Kabinett-
stück realistisch darstellenden Humors in beschreibender Form, jenes durch
und durch dichterischen Humors, der die Schlaken der lächerlichen Erschei-
nung mit der verhaltenen Flamme tiefseherischer Erkenntnis ruhesam durch-
dringt und durchleuchtet, bis das nackte Menschlein in all seiner kläglichen
Kleinheit und lächerlichen Dürftigkeit hilf- und rettungslos vor uns ange-
prangert erscheint, und wir in ihm die Züge so manchen Wesens wieder-
zuerkennen glauben, dessen menschlicher Kern uns verschlossen blieb. Nun
aber haben wir einen Schlüssel; wer ihn über der bloßen Erheiterung
mitzunehmen vergißt, läßt viel liegen.

Dann die launige Charakterstudie von R o s e g g e r. Ganz in dic
heitere Tiefe dieser Kellerschen Darstellung reicht sie nicht, — wer von
den Lebenden vermöchte das wohl? — aber wie außerordentlich plastisch
ringt der grausam geplagte Stausel mit seiner inneren Welt, nicht schlechter
als ein exakter Philosoph und wie dieser konsequent bis ans Ende. Das,
Unmittelbare, die Steigerung der natürlichen Rede bis in die Treue des
Tonfalls und des Senfzers hinein gibt dieser köstlichen Geschichte ihren
durchaus selbständigen Wert auch neben solchen, die sie an spezifischer Ver-
dichtung vielleicht übertresfen.

Heinrich Steinhausens tiefsinnige Rede auf die „Jubiläo-
historie" hat einen starken satirischen Einschuß, das Lächeln aber, mit dem
der Dichter dem vortragenden Herrn Professor Or. Schnörk über die Schulter
und dem Leser des ganzen Buches „Heinrich Zwiesels Aengste" zwischen
Frohem und Trübem hindurch ins Gesicht sieht, ist doch ganz das Lächeln
des echten deutschen Humoristen.

Den Schluß unsrer kleinen Zusammenstellung mache Wilhelm Raabe,
wie er uns die Olympfahrt seines Paddenauer Rektors am Schillerfesttage
s859 schildert. Ja, am Schillerfesttage — „der Dräumling", dem dieses
Kapitel entnommen ist, hat nämlich noch eine ganz besondre Beziehung zu
unsrer Zeit, er hat als Hintergrund der Handlung, was unsre Gegenwart
hat: ein deutsches Schiller-Nationalfest. „Der Dräumling" ist wieder
„aktuell" — deutsche Presse, was willst du mehr, um für ihn wirken zu
können? Gelänge es, gelegentlich der „Schillerzeit" diesen Senker vom
Raabeschen Stamm endlich sest einzupflanzen ins deutsche Volk, es wäre

760 Runstwart XVIII, Z
 
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