Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 19,1.1905-1906

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1905)
DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7963#0197

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Knirschen eines trotzigen Willens zu
hören, der sich gegen das gleich-
machende Richtscheit des allmächti-
gen Baumeisters wild anfgebäunrt
hat, bevor er zufrieden war, nichts
anderes zu sein als die andern.
Aber bci Licht besehen läuft die
Handlung gerade auf das Gegenteil
hinaus. Wie aus Steinen wicder
Menschen werden, wie willenlose und
gleichgültige Körper wieder eine Scele
bekommen, die auf sich vertraut und
auf ein neues Glück hofft, das scheint
Sudermann als „Jdee" des Stückes
vorgeschwebt zu haben. Jch wähle
absichtlich den etwas vagen Aus-
druck „vorgeschwebt"; denn daß dies
der lebendige Keim wäre, aus dcm
die Gcschichte von Jakob Biegler und
Lore Eichholz, diesen beiden verstein-
ten und dann durch gcgenseitiges
hilfsbereites Vertrauen wieder zum
Leben erwärmten Menschen, organisch
emporgewachsen, das könnte leider
auch der wohlwollendste Kritiker nicht
beweiscn. Vielmehr macht es ganz
den Eindruck, als sei die Stelle im
dritten Akt, die den Titel zu er-
klären sucht (Buchausgabe bei Cotta),
erst nachträglich hineingepaßt wor-
den, wie ein Stein in cin Gebilde,
das schon fertig war, dessen Ver-
fertiger sich aber plötzlich inne ward,
daß doch wohl noch irgendwo ein
Licht aufgesetzt werden müßte, weil
es dem Ganzen an Leuchtkraft und
Leben fehle. Lore Eichholz, jenes
Mädchen, das sich in freundschaft-
licheni Mitleid dem entlassenen Sträf-
ling zuneigt, während es selbst mit-
samt einem Kinde von dcm über-
mütigen Liebhaber, einem wüsten,
großsprecherischen Kerl, verschmäht
und beiseite gestoßcn wird, erinnert
da den llnglücksgenossen an dic Ent-
stehungsart der Steine: „Der Stein
wird durch Druck. Wissen Sie? . . .
Ja, Hunderttausende und Millionen
Jahrc müsscn die drüberliegenden
Steine drücken, dann wird die leben-

dige Erde zu Stein. Beim Menschen
dauert es nicht so lang. Das hab
ich ausprobiert. 'n paar Jährchen
Druck, immer derselbe Druck. Das
gcnügt . . . Man lacht und man
weint und man schläft und man
arbeitet — ach, lustig sein kann
man sogar — man is überhaupt
ein Mensch wie andre und is doch
lang keiner mehr. Drin im Jnner-
sten lebt man gar nicht mehr. Man
is willenlos wie 'n Stein. Man wird
gegen alles gleichgültig wie 'n Stein."

Die Befreiung aus dieser „Ver-
steincrung", dieses Aufwachcn dcs
Menschcn zu Bewußtsein und eige-
nem Willen dramatisch zu gestalten,
würe nun gewiß kein übler Vorwurf
gcwesen. Wenn Sudcrmann nur den
nötigen auf deu Kern der Sache
gerichteten Ernst für ein so inneres
Thcma hätte und wenn es ihm auch
nur im entfcrntesten gegeben wäre,
schwebende seelische Stimmungen sest-
zuhaltcn! Statt dcssen bändelt er
mit hunderterlei Nichtigkeiten und
Ncbensächlichkeitcn an, vcrzettelt seine
Schöpferliebe an Milieuschilderungen,
Episoden und Nührseligkciten und gibt
sich ganz an die äußere Thcatralik
aus. Die sämtlichen vicr Akte haben
auch nicht eine einzige leiserc Szene,
die uns tiefer in die Menschcn hin-
einhorchcn ließe; wo sich ein Ansatz
dazu findet, fällt dem Psychologen
sofort wicder der nm seine Wir-
kungen besorgte Thentermann ins
Wort, nnd um so plumper, gröber
und kunstloser hageln die Effektc.

Jch möchte nicht mißvcrstaudcn
werden. Mit dieser Bemerkung am
allerwenigsten. Jch gehöre nicht zu
den Kritikcrn, die dem Lyrischcn vdcr
überhaupt dem „Jutimeu" auf dcr
Bühue einseitig das Wort reden.
Jm Gegenteil: ich halte es für ver-
fehlt, das Theater „cnttheatern" zu
wollen, und verdcnke es cincm mo-
derncn Dramatiker mit nichten, wenn
er cinmal alle acht Nosse der brct-

;5S Kanstwart XIX, 3
 
Annotationen