Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Das Geheimnis des Schlafs
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0069

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
darauf hingewiesen, daß der frnher vorhandene Bohemetyp mit seinem
Rkachtleben, mit seinem Traum- und TroH-Leben ebenfalls ein betont jugend-
licher Typ war nnd die geistige Grundlage seines Lebensstils, nämlich die
Absage des Geiftes an die Welt, sehr dentlich aufwies.

Ich komme von dem Gesagten aus zu der Feftftellung: das mittlere Lebens-
alter erfährt das Erwachen nach gutem Schlaf als ein Glück, weil es der
im Schlaf neu vollzogenen Bindung des „Geiftes" an die Welt grundsäHlich
zuftimmt. Die Iugend erlebt das Erwachen als eine Mindernng, weil sie
diese Bmdung ablehnt, sie jedenfalls nicht eindeutig bejaht. Was den Abend
angeht, so ift er für die Alten negativer, weil er die Bindnng Geift-Welt
fortfchreitend auflockert. Er ift für die Iüngen positiver, weil eben diese
Lockerung dem jugendlichen Stil entspricht, weil sie Freiheit gibt für die
Eigenbetätigung des Geiftes, für Tranm und Subjektivismus. Lllter und
Iügend, beide ftimmen derjenigen Tageszeit zu, die ihnen die Beftform des
ihnen gemäßen Zuftandes bringt, das Alter dem Morgen, die Iugend dem Abend
und der Nacht. Beide Entfcheidungen fcheinen mir mit der grundsätzlichen Ein-
ftellung der geiftigen Zentralinftanz zur Welt draußen und zum vitalen
Partner drinnen zusammenzuhängen. Bernfeld und Feitelberg syrechen davon,
daß Ermüdnng anftritk, wenn am Ende des Taglaufs „der Transyort der
Energien von den Zellen zum Zentralayparat (Gehirn) erfchwert ift." Mir
fcheint, daß man diese Erfchwerung im Berkehr zwifchen Zentralinftanz und
Zellen sehr wohl als das lesen kann, was sie in meiner Ausdrucksweise ift:
als Lockerung der Beziehungen zwifchen Geift und Welt bzw. Köryer, als
eine gewisse Berselbftändigung des geiftigen Beftandteils, als eine fchizoide
Abfchnürung desselben, die nur durch den entfchlossenen Hinnntergang in die
Beziehungsfülle, wie sie der Schlaf bringt, zu heilen ift. (Bei den Geiftes-
kranken heilt die eingetretene Syaltung nie wieder zu. Man könnte sagen,
daß sie Menfchen seien, die sich nie wieder vollkommen „ausfchlafen" können.
Sie können nie wieder die legitime Frucht des Schlafes erreichen, sie sind dazu
verwünfcht, in der Zone der tlbermüdnng, höchftens des Traumes, zu ver-
harren.)

Nüch dem alten Sprichwort ift es das Essen und Trinken, welches Leib
nnd Seele zusammenhält. Dem Schlaf muß man dann nachsagen, daß
er Geift und Seele zusammenhält, diese beiden Partner, deren Zueinander-
ordnung nicht frei von Tragik und vielen Schwankungen ift und die daher
immer von neuem besiegelt werden muß. Schlaf hat mit dem innerften Ge-
heimnis des menfchlichen Daseins zu tun, er betrifft den Berknotungsyunkt
desselben, der zugleich der höchfte Gefahrpunkt ift — und deshalb gibt es bei
den meiften Menfchen, selbft bei den Roheften noch, ein Gefühl für die
„Heiligkeit" des Schlafes. Essen und Trinken wird niemand als heilig be-
trachten, denn die Berbindung von Leib und Seele ift, wenn man so sagen
will, weitgehend garantiert. Aber den Schlaf empfinden selbft böse Menfchen
als heilig, weil er die wichkigfte Angelegenheit des menfchlichen Seins be-
trifft, weil im Schlaf der Menfch „drüben" ift, gleichsam ausgewandert und
dem Diesseits im Augenblick nicht zugehörig, kindlich und waffenlos. Es ift
einer der in ihrer Wahrheitsfülle faft unbegreiflich großen Züge Shake-
syeares, daß unmittelbar nach Duncans Ermordung gerade dieses überyer-

46
 
Annotationen