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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
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Berrsche, Alexander: Pfingstwunder der deutschen Musik, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0074

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worden. Wäre nicht das groö Materielle stets wichtiger gewesen als alles
andere, so hätte ein kultureller Völkerbund bereits gegen Heinrich Schütz
und seine brukale Art, kühner und organischer zu rnusizieren aks die Ita-
liener und Franzosen, Einspruch erheben müssen. Die deutsche Musik, von
der zu Zeiten Leonins und Perotins noch gar nicht, im Zeitalter des großen
Machaut sehr wenig und ersi vom 16. Zahrhundert an ernstlich und in wei-
teren Kreisen die Rede war^ sing plötzlich an, ganz bedrohlich zu wachsen
und sich auszubreiten wie ein mächtiger Wald. Hundert Zahre später zeigte
sich schon, daß dieser Wald in dem reicheren ZZoden wurzelte, und als
Iohann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel ihre Werke schufeu^,
war die deutsche Musik längst von der Übergigselung sremder Vorbilder
zur Entdeckung neuer Länder und Welten vorgeschritten. Sie war — „still
und mit Zeit" — die Königin geworden, der niemand die Krone streitig
machte. Sonst aber sah es aus der Welt so aus: Frankreich, das nie einen
größeren Ilkusiker besessen hat als Nlkachaut, war schon im graucl ^iseltz zu dem
nobelen, geistvollen und verkleinerten Format einer Musik übergegangen,
die eigentlich „rnu8igutztttz" heißt, ein Wort, das wir uicht haben, weil wir
die Sache nicht haben, und das wir ebensowenig übersetzeu können wie die
Franzosen das deuksche „Lied". Englands Musik war seit Purrel Lot. Sie
starb glötzlich und unerwartet wie unter dem Fallbeil. Italien hat die orga-
nische, gestaltende Krast deutscher Musik nicht mehr in sich auszunehmen
vermocht, aber noch blühte dort die alte, edle Kantilene wie ein goldener
Sommernachmittag, von dem man nicht glaubt, daß er zu Ende gehen kann.
Er ist dennoch zu Ende gegangen. Es kam jene musikalische Weltrevolution,
die den Generalbaßstil dahinrasfte, und die nur Deutschlaud ohne Schmäle-
rung seines Erbes und seiner Macht überstanden hat. Während unser Boden
einen Haydn, Mozart und Beethoven hervorbringen und tragen konnte, be-
gann in Italien die Mmsik immer mehr an Sast zu verlieren. Die edle, alte
Erde war verbraucht. Es bedurfte nur weniger Iahrzehnte, um die Kantileue
dieses Landes, die einst ohnegleichen war, in die seichtesten Nwderungen amü-
santer und sentimentaler Pogularität sinken zu lassen. Die Gemeinsamkeit
und gegenseitige Befruchtung eurogäischer Musik hatte aufgehört^ sede Na-
tion war isoliert^ uud keine konnte auch nur den Bersuch wageu, sich mit
der deutschen Musik innerlich auseinanderzusetzen. Italien hat ebenso wie
Frankreich die großen Ereignisse Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert
nicht erlebk, sondern uur von außen gesehen. Es half nichts mehr, daß in
der späteren Romantik die abgerissenen Fäden wieder angeknügft wurden.
Auch im Leöen der Völker läßt sich nichts nachholen. Der Substanzverlust
war nicht mehr hereinzubringen, nnd keine historische und gsychologische Kon-
struktion kann die furchtbare Leere ausfüllen, die durch den gassiven Wider-
stand gegen Haydry Mozart und Beethoven geschasfen worden ist, so wenig
alles geistige und technische Auf-der-Höhe-Stehen das unwägbare Etwas
ersetzen kann, ohne das es nicht möglich ist, eine tiefe, herzbewegende Musik
wie eben das Schumannsche Abendlied zu schreiben. Wie aber diese tragische
Entwicklung kam, warum bei Italienern, Franzosen und Engländern die
ganz große Mnsik auf einmal verstummt ist, und warum sie bei uns weitev-
lebt bis auf den heutigen Tag, läßt sich nicht ergründen. Die Historiker

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