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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 1 (Oktoberheft 1931)
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Frankreich in Indochina, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0079

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II.

Vor Ankunfr der Franzosen zeigten die Znstände in Jndochina wohl die auch von
China bekannte Aussaugung durch die Mandarine, barbarische Justiz und andere
Schäden. Allein auch genug Lichtseiten waren zu verzeichnen. Jn diesem von altersher
durchwegs fur Geistesbildung begeisterten Volke bestanden in jedem Dorf eine oder
mehrere Schulen, und der Bildungsstand auch der untersten Klassen war entspre-
chend sehr hoch. Bei Jntelligenz und Bildung war jedermann der Aufstieg bis in
die höchsten Stellen offen. Die sozialen Berhältnisse waren dürftig, aber bei verbrei-
teter Hilfsbereitschaft gab es nirgends unmittelbaren Hunger, und die Arbeitsskla-
verei im Stile des heutigen Kuliwesens war ganz unbekannt. — Die Eroberung durch
Frankreich geschah unter den üblichen Borwänden — Verletzung ungebetener Missio-
nare —, und vollzog sich gegen tapferste Gegenwehr unter unwahrscheinlichen
Schlächtereien. Selbst die begeisterten Anhänger der französischen Herrschaft geben
die erste Kolonisationsepoche trotz eines wehmütigen Seitenblicks auf ihr „romantisch-
heroisches" Abenteurertum moralisch preis. Jn den ersten Jahrzehnten flackerten
immer wieder örtliche Erhebungen auf, doch war daS Bolk im ganzen von größter
Gutwilligkeit und Gefügigkeit. Es kam der Weltkrieg. Nachdem Japan den Dausch
Jndochinas gegen eine Operationsarmee in Europa abgelehnt hatte, suchte Frankreich
anderweit Nutzen auS der Kolonie zu ziehen. Die Rekrutierung geschah genau so wie
in den anderen französischen Kolonien: bewaffnete Umzingelung der Ortschaften und
Abführung der „Freiwilligen", welche oft aus Berzweiflung sich noch vom Schisfe
ins Meer stürzten. Ho ooo Tote hatte Jndochina zu verzeichnen. Bezahlt wurden
sie durch Bersprechungen künftiger Autonomie, denen zuliebe sich das Land, obwohl von
europäischen Truppen und Beamten fast entblößt, ruhig hielt — obwohl schon 1916
der Kaiser von Annam den Bersuch machte, zu einer aufständischen Gruppe im Ge-
birge zu fliehen, was mit 16 Hinrichtungen gesühnt wurde. Auf der Friedenskonfe-
renz suchte Indochina, natürlich vergeblich, das so laut verkündete Selbstbestimmungs-
recht. Als nach dem Kriege alle Versprechungen sich als leere Worte entpuppten,
war der AuSgangspunkt für eine das ganze Bolk durchdringende Auflehnungsstim-
mung geschasfen — gefördert durch die Jnflationsentwertung der sozusagen zwangs-
mäßig erhobenen Kriegsanleihen. Jndochina bedauerte bald jede Hilfe, die es im
Weltkriege geleistet hatte.

Seit dem Kriege sind in materieller, besonders wirtschaftlicher Hinsicht seitens der
Kolom'alverwaltung nicht unbedeutende Fortschritte erzielt worden: Jndustrien sind
entstanden, Bergwerke und Pflanzungen haben sich vervielfacht, die Städte sind ge-
wachsen, Häfen wurden erweitert, viele Autostraßen und einige Eisenbahnen geschaf-
fen, auch in hygienischen Einrichtungen ist man etwas vorangekommen. Aber nicht
nur ist das alles, so voll die französischen Bücher den Mund zu nehmen pflegen,
gegenüber den Leistungen anderer Kolonialvölker recht unzulänglich, sondern mehr und
mehr fragt sich der Eingeborene, wie für ihn die Bilanz dieser „Fortschritte"
aussieht. Er kommt zu der Überzeugung, nahezu alle Arbeit und alles Geld dazu ge-
liefert, aber fast keinen der Borteile davon gehabt zu haben. Wohl haben sich, neben
den Europäern und zahlreichen Chinesen, auch einige Eingeborene stark bereichern
können, aber die Masse ist größtenteils aus einer bescheidenen, aber sicheren Existenz
proletarisiert worden im verwegensten Sinne des Wortes.

Für die heutigen sozialen Zustände sind in erster Lmie die riesigen Kuliheere typisch.
Die unaufhörliche Ausdehnung besonders der Gummipflanzungen bringt einen sehr
großen Bedarf an Menschenmaterial k>ervor. Man deckt diesen Bedarf auf eine ziem-
lich einfache Weise. Auf dem freien Arbeitsmarkt ist angesichts wachsender Aufklä-
rung nicht mehr viel zu haben. Jnfolgedessen hat man den Stämmen, die in Ge-
meineigentum leben, ohne weiteres ihr Land als herrenlose Sache weggenommen und
sie damit zur Arbeitsannahme gezwungen. Ein anderer vorteilhafter Umstand waren

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