Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1931)
DOI Artikel:
Le Fort, Gertrud von: Die Letzte am Schafott, [2]: Novelle
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0147

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
eine Lücke: ich sah — sah wiederum genau wie damals — mitken im Strudel

der sürchterlichen Weiber Blanche de la Force: ihr kleines, blasses, zusammen-

gedrückkes GesichL brach gleichsam aus seiner Umgebung hervor, warf sie

von sich ab wie ein Tuch — ich erkannLe dieses GesichL in jedem Zug wieder,

und doch: ich erkannLe es nichL wieder — es war völlig furchLlos: sie sang.

Sie sang miL ihrer kleinen, fchwachen, kindlichen SLimme ohne jedes ZiLLern,

nein, jubelnd wie ein Vögelchen; sie sang ganz allein über der großen, blu-

Ligen, fchrecklichen Place de la RevoluLion das Vsnn ereator ihrer SchwefLern

zu Ende. . .

,,Deo vatri sit Zloria

Lt k'ilio, gui g mortuis
Lurrexit ae karaelito
In saeeiilormri Zgeenls!"

Zch hörLe deuLlich das BekennLnis zum dreieinigen GoLL — das Amen hörLe
ich nichL mehr. (Sie wissen, daß die wüLenden Weiber Blanche auf dem
Fleck erfchlugen.) Ilnd nun, meine Freundin: der Regenbogen über der
Place de la RevoluLion war erlofchen, und LroHdem haLLe ich das Gefühl: die
RevoluLion ifi zu Ende. (TaLsächlich brach die SchreckensherrfchafL zehn Tage
späLer zusammen.) —

Llls ich miL dem elsässifchen Abbe das Haus der Ducor beLrat, hockte auf der
Treppe ein kleines fremdes Mädchen. Es näherte sich uns zutraulich und
zog unter seiner Schürze ein Bündelchen hervor, das es dem Geifllichen
reichLe: es war 1s petit koi cls Oloirs; das Kind haLLe ihn über und über
miL Schlamm bedeckL irgendwo aus der Gosse gezogen, wohin man ihn nach
einer blasphemifchen Prozession gefchleuderL haLLe.

Wir gingen dann gemeinsam zu Marie de l'Incarnation. Sie sah jehL aus
wie eine Vlator ckoIoro83. Der Geifiliche ergrisf ihre Hand: „Kommen Sie,
Nckaria von der Menfchwerdung", sagte er.

Ich fühlte in der fremden Sprache seiner HeimaL die Bedeutung ihres Wa-
mens ftärker, oder betonte er ihn miL besonderem Rkachdruck? Er zog sie zu
dem Schrank, in dem Nose Ducor damals ihr MadonnenalLärchen ver-
borgen hielL, öffnete ihn und legte 1s pstit Hoi darauf nieder. Dann begann
er zu beten: Er betete das „Hsnina eoeli laotaro", den Ofterqruß an die
MuLLer GoLLes.

Ich habe mitgebeteL: ja, meine Liebe, ich bin in jener Stunde wieder wie einft
als Kind durch alle Stockwerke des Seins gesunken bis auf den Grund der
Dinge, welcher ein ewiger Grund ift, weil er ein göttlicher ift. Ilnd nun,
meine Freundin, haben Sie das WorL.

Ich glaube, in Ihren warmen Llugen zwei Tränen Zu erblicken; sie fallen
langsam und feierlich anf Ihre Hände nieder; Ihre Liggen bleiben ge-
fchlossen, ich möchte faft sagen, gefaltet: Sie sind ergriffen, aber Sie sind
zugleich beunruhigt, und ich weiß, warum: Sie erwarteten den Sieg einer
Heldin, und Sie erlebten das Wunder in der Schwachen!

2lber liegt nichL gerade darin eine unendliche Hojhnung? Das Menfchliche
allein genügL nichL, auch nichL das „fchöne Menfchliche", für das wir uns
einft miLeinander begeifterten — vor der RevolnLion. (Llh, meine Freundin,
im Grunde lehrL uns diese ganze gewaltige Bewegung nur dasselbe wie die
 
Annotationen