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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 3 (Dezemberheft 1931)
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Alverdes, Paul: Bücherbrief zu Weihnachten
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0230

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Buch unter Verschluß zu tun, damit er in seinem Hause der Einzige bleibe, der an
einem Christgeschenk ein Ärgernis nehmen mußte? Soll ich es wirklich wagen,
ihm wiederum zu einer Gabe zu verhelsen, die er nicht annehmen kann?

Und Jhr Herr Schwager, der Rechtsanwalt? Jhn traf der erste Band von Albrecht
Schaesfers Griechischen Heldensagen ((gnsel-Verlag), und er schickte mir nicht lange
danach einen Ausschnitt aus seinem Leibblatte, in welchem dieser Dichter frisch heraus,
mit einer zwei Spalten breiten Überschrift, „Arkadischer Schmock" geschimpft wurde.
^hr Herr Schwager schwört auf sein Leibblatt, und so nannte er mich eines Schmocken
Bewunderer und stellte mir in Aussicht, daß er Sie von Jhrer Marotte, mich um
Vorschläge zu bitten, noch kurieren werde. Wie ich nun sehe, hat seine Kur nicht
angeschlagen, und so beginne ich mein Amt mit der Bitte: schenken Sie ihm den zwei-
ten Band dieser Neuerzählungen. Er enthält Tantalos und die Tantaliden, begiw
nend mit Prometheus, endend mit den Atriden, enthält ferner den Thebischen Sagen-
kreis, Jason und die Argonauten und Jon — so anschaulich und bewegend nachev-
zählt, wie gerade das von den lebenden Dichtern unserer Zunge kaum ein zweiter
vermöchte. Er enthält endlich ein Quellenverzeichnis zu beiden Bänden, das jeden,
der Lust auf die ältesten Texte bekommen hat, zu Dank verpflichten wird.

Nach dieser Einleitung lassen Sie mich aber doch sagen, daß Jhre Lieben und Freunde
sich lieber nicht auf eine Fülle des Allerneuesten freuen sollen. Von wirklichen Neuig-
keiten nenne ich nur eine einzige, aber sie wiegt ganze Stöße von neuerer deutscher
Literatur auf. Es ist Hans Carossas eben erschienene Erzählung „Der Arrt
Gion" ((znsel-Verlag). Hier und da ist im nun vergehenden Iahr ein oder das
andere Kapitel darauS zu lesen gewesen, „Emerenz und Cynthia", oder der „Heim-
weg der Magd", und stiftete Verwunderung und Lust auf das verheißene Ganze
zugleich. Nun sügt sich auf einmal alles zusammen, was nicht zueinander zu gehören
schien; Toni nämlich, ein Knabe, der von der Vermietun^ eines Fernrohres lebt und
Lydien, einer Dame ohne Unterleib, mit schwärmender Liebe anhing, Emerenz, eine
Riesin aus dem Gebirge, die sich ihr Kind nicht nehmen lassen will und darüber eines
wahren Opfertodes stirbt, Cynthia, eine Bildhauerin, in ihrem Geiste gefährdet wie
Emerenz in ihrem Leibe, aber zur Genesung berufen. Diefe und andere wunderliche
und wunderbare Personen gesellen sich dem Arzte Gion, und er hat redenden und
wirkenden Umgang mit ihnen als ein Freund, ein Geliebter, ein Vater, ja als ein
Weiser, dem viele Geheimnisse der Natur und der Geisterwelt kund geworden sind.

(gch weiß nicht, liebe Freundin, und es ist auch völlig gleichviel, ob und welches
eigene Erleben auch diesem Buche des Dichters zugrunde liegen mag, und vor allem
hüte ich mich wohl, der Gestalt des Arztes Gion seine eigene gleichzusetzen. Aber
wer sich mancher gesprochenen oder im Gleichnis der Personen und ihres Schicksals
gestalteten Weisheit aus dem „Rumänischen Tagebuch" und den „Verwandlungen
einer (gugend" erinnert, der wird gewahr werden, wie dieser Gion aus der Fülle
von Carossas eigenstem Wesen sein Leben hat. Es gibt in diesem Buch betrachtende
und sinnende Abschnitte mehr als in den vorangegangenen. Sie beziehen sich durch-
wegs und durchaus auf die Gegenwart, oder doch die allerjüngste Vergangenheit der
Zeit nach dem Kriege — oder ich könnte fast sagen: einer Zeit nach einem Kriege.
Denn dies unterscheidet auch den Denker Carossa und den unmittelbaren Betrachter
seiner Epoche so durchaus von seineögleichen, daß er bei aller herrlich genauen
Gegenständlichkeit das einzelne Ding und Geschehen doch immer als in einem unlös-
bar innigen Zusammenhange mrt der ganzen Schöpfung befindlich gewahrt. Es
ist eine Schöpfung, in welcher die sichtbaren und die unsichtbaren Dinge und Kräfte
von gleichem Nange und gleicher Mächtigkeit sind, eine nicht erstorbene, sondern
noch junge Welt, die sich fort und fort noch verwandelt. Gion, der Arzt — und nie-
mals ist er in einem Gegensaße zu den Gedanken und Ahnungen des Dichters voy-
stellbar —, Gion betrachtet sie mit Augen, die sich noch wundern und die bewundern
 
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