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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 4 (Januar 1932)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0325

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Der „Mensch für sich" ist ein Abstrak-
tnm; in Wirklichkeit gibt es nur den
Menschen in den Bezügen der Welt,
unter den Mitmenschen. Die Welt ist
nicht bloß der Entfaltnngsraum, in dem
der Mensch seine un-bedingte, also auch
unveränderliche Substanz wachsen las-
sen kann, sondern er wächst, indem ihn
die Welt verändert. Gut oder böse,
mutig oder ängstlich, vertrauensvoll oder
mißtrauisch i st nicht der Mensch an sich,
sondern er wird es in der Ausein-
andersetzung mit der Welt. Wenn er
aber den verändernden Einflüssen dec
Welt ausgesetzt ist, so hat Erziehung
nur ei'nen Sinn, wenn auch sie öen
Menschen verändern kann, wenn sie ihm
in seiner Auseinandersetzung mit der Welt
helfen kann. Sonst wäre er ja verloren.
Hier liegt die andere Aufgabe der Er°
ziehung. Erziehung soll freilich den
„Menschen an sich" nicht verändern, sie
soll nicht einen anderen „Menschen an
sich" auS ihm machen. Aber sie hat es
auch praktisch nicht mit dem Menschen
an sich, in seinem Anfangszustand zu
tun, sondern immer mit dem gewordenen,
schon veränderten Menschen. Jhn soll
die Erziehung ändern, ihm soll sie zu
seiner Änderung helfen.

Jn der Tat kann die Erziehung den
Menschen verändern. Die Erfahrung be-
stätigt es. Freilich nun nicht einfach dis-
ziplinär, durch Autorität und Zwang.
Das Scheitern dieser einseitigen Erzie-
hungsmittel führte ja gerade zu der Er-
fahrung, daß Erziehung nichts ausrich-
ten könne, zur erzieherischen Skepsis. Er-
ziehung kann dem Menschen nur hel-
fen, kann ihn nur verändern, wenn sie
sich in seine Auseinandersetzung mit der
Welt einschaltet und den Menschen als
aktiven Partner öieser wie der erzie-
herischen Auseinandersetzung anerkennt.
Die Anderung wird mißverstanden, wenn
versucht wird, den anderen (oder sich
selber) dnrch Moralismus zu einem an-
deren, „besseren" Menschen zu machen.
„Moralische" Bessernng besteht nur dar-
rin, daß der Mensch im einzelnen Fall
etwas tut oder nicht tut, was auö
guten, aber doch nur äußeren Gründen
wünschenswert und nützlich ist; vielleicht
auch noch darin, daß sich der Mensch
daran gewöhnt, solche Dinge zu
tun; aber wesentlich ist dabei, daß
er sie tut, ohne sich zu ändern. Sie
bleibt also Schein. Er bejaht dieses

Tun nicht, sondern bleibt der, der er
war, und wenn der moralische Druck
nachläßt, schnellt der „moralische" Mensch
in seine ursprüngliche Haltung zurück
wie eine freigelassene Feder. Fällt die
Moral weg, so fällt ja auch der Grund
weg, das zu Lun, was sie verlangte.
Von einer Änderung des Menschen ist
nur zu sprechen, wo der Mensch das,
was er tun muß, mit Bejahung,
also in Freiheit tut. Änderungsmög-
lichkeit bedeutet nichts anderes als Frei-
heit. Wenn der Glaube an die Ände-
rungsmöglichkeit des Menschen verloren
geht, so bleibt doch das „Du sollst", die
Forderung an ihn, anders zn han-
deln, als er handelt und gehandelt hat;
aber es bleibt ihm nur die Möglichkeit,
es unter dem Gesetz zu tun. Ohne Frei-
heit verfällt er also dem Moralismus.
AnderungSmöglichkeit bedeutet für den
Menschen Befreiung vom Moralismus.
Freilich ist diese Mögl,'chxeit keine ob-
jektive, die auf einem sicheren Wege von
jedem erlangt werden kann, sondern nur
soweit sich der Mensch zu ändern ver-
mag, vermag er sich vom Morali's-
muS zu befreien. Denn diese Befrei-
ung ist nicht zu erlangen nm irgend -
einen Preis, sondern nur um den einen
Preis der völligen Auslieferung seiner
selbst, um den Preis der Bejahung des
Gesetzes. Die Bejahung des Gesetzes
führt zur Freiheit, aber nicht seine mora-
listische Erfüllung. DaS Seufzen des
Moralisten unter dem Druck des Muß
ist nur der Ausdruck seiner Verneinung.
Das Gesetz soll aber ebenso bejaht sein
wie das Schicksal.

Auf der Möglichkeit der Änderuna be-
ruht die Möglichkeit des menschlichen
Lebens. Nichts was geschehen ist, kann
rückgängig gemacht weröen. Auch der
Mensch kann nichts rückgängig machen,
aber er kann sich ändern, da er als
Mensch die Möglichkeit hat, sich zu sich
selber zu verhalten, zu sich selber Stel-
lung zu nehmen, und das heißt, seinen
Zwiespalt mit sich selber, seine Ent-
zweiung, sein „schlechtes Gewissen" zu
erfahren.

Wenn wir von Änderungsmöglichkeit
sprechen, so ist nicht gemeint, daß sich
der Mensch in jedem Augenblick ändern
könne. Diese natürliche Anpassungsfähig-
keit befitzt das Tier, gerade weil es sich
nicht zu sich selber verhält, in viel höhe-
rem und vollkommenerem Maße als

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