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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0331

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aber ohne hämische oder neidische Seitenblicke an. Er kommt eben aus einer
fremden Welt.

Für Filme, die in Europa spielen, muß man sich eigene Berater und Berate-
rinnen verschreiben, die viel Mühe haben, geeignetes Material zusammen-
zubringen und an ihm zu demonstrieren, wie man in Europa gekleidet ist.
Das könnte sich plötzlich ändern. Es brauchte nur eine Richtung zu siegen,
die sür Förderung der Leichtindustrie und sür Abgabe von Tertilien an die
Bevölkerung eintritt. Dann wäre das Straßenbild bald verändert. 2lber es
liegt doch auch etwas Beabsichtigtes in dieser Bernachlässigung des Äußeren:
ein betonter Abstand zur bürgerlich-europäischen Vergangenheit. Ob man,
falls man Textilien hätte, imstande wäre, diesen Abstand positiv, etwa durch
eine proletarische Tracht, zu schaffen, bleibt eine osfene Frage.

*

Man kann immer nur berichten: dies habe ich hier und heute gesehn. Emige
Bahnstunden weiker und wenige Wochen später kann es ganz anders sein. Ein
Moskauer deutet auf die neuangestrichenen Häuser rings um den Arbat, auf
die Reihe neuer Glühlamgen die Straße hinab: seit ein paar Tagen hat
sich Moskau völlig verändert. Diesen Herbst streicht man alle Städte, die
ich gesehen habe, weiß an, man spriHt Farben an die Häuser, man erneuert
ihr Aussehen. Das geht „zentral" vor sich; in Moskan wird auf den Knopf
gedrückt, und soweit der Apparat auch nur funktioniert, gehorcht er. Die
Läden in der Twerskaja, in denen man im freien Berkauf so ziemlich alles
außer Textilien bekommt, waren vor einigen Monaten mit Brettern vernagelt.
Der Staat hat den N^ep in eigene Regie genommen, macht sich selbst und den
Kooperativen, den Läden mit Staatspreisen, Konkurrenz, nimmt die hohen
Löhne und Gehälter, die er zahlen muß, um den Fünfjahresplan vorwärts-
zubringen, auf diesem Wege wieder ab. Die Läden sind voll, alle Läden
sind voll, sowohl die Spezialwarenhäuser für die Rote Armee oder das pracht-
volle der G.P.U., als auch noch mehr die gewöhnlichen Läden auf Karten.
Man kauft den ganzen Tag und alle Tage. Da jeder an einem andern Tag
Ausgang hat, herrscht namentlich am Abcnd, bis spät in die Nacht, überall
das gleiche Gedränge. In vielen Läden wird in zwei Schichten gearbeitet.
Das Geld rollt, der Papierrubel kursiert. Llnd keineswegs bloß Unentbehr-
liches wird gekauft. Es gibt z. B. ziemlich viel Spielwarengeschäfte. llnd da
man überall nur Leute in der gleichen Arbeitskleidung sieht, hat man meisi
den Eindruck, Menschen vor sich zu haben, die sich „einmal etwas gönnen".
Es isi aber doch der Alltag. Der Alltag jeHt und in Moskau. Bor einem
Iahr wars ganz anders, beinahe hungersnokhaft. Morgen kanns anders sein.
Dann wird man sich eben anders einrichten. Man isi ans Sich-llmsiellen
gewöhnt.

-i-

Überall, wohin man in Moskau kommt, sind zu viel Menschen. Die Stadt
isi von 1,2 Millionen seit dem Umsiurz auf etwa Z Millioneu gesiiegen.
Das Berkehrsproblem scheint so unlösbar wie das Wohnungsproblem. Man
plant eine llntergrundbahn. Einsiweilen hängen Menschentrauben an jedem
Wagen der Elektrischen, und da man rückwärts ein- und vorn aussieigen

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