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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 5 (Februarheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0339

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kann nicht mehr zwischen die am Boden Liegenden Lreten, man kann sich nicht
bewegen, das Ganze ist eine graue, im warmen Dunst der späten Nacht ver-
schwimmende Masse. Signale schrillen, ein Zug kommt, Einzelne lösen sich und
gelangen aus nnbegreisliche Weise, über die Liegenden hinweg, zur Tür: die
andern schlasen weiter. Dabei hilst man einander, soweit man wach wird, mit
Freundlichkeit; namentlich wo Kinder sind, wird Rücksicht geübk, es gibt
kaum Geschrei, keinen Streit, Soldaten holen einer Mutter Wasser für den
Tee, eine Familie zerpflückt trockenen Fisch mit den Fingern, ein Bauer ver-
zehrt eine Llrbuse, keiner stört den andern. Mitten in der vom Schlaf nieder-
gehaltenen, dumpf atmenden Masse steht ein Tscherkesse im langen schwarzen
Filzmantel aufrecht, mit gekreuzten Armen, das Gesicht orientalisch unbewegk.
Um fünf Uhr, zur Zeit der größten Kälte, wird der Saal zur Reinigung ge-
räumk. Keiner murrt, man geht srierend aus und ab oder legt sich aus den
Bahnsteig. Schaffner und Lokomokivführer mit ihren Laternen gehen hin und
wider, es beginnt zu tagen, Tag und Rracht sind in diesem Warten beinahe
gleich. So geht es drei, vier, fünf Tage, ehe ein Plah m einem der Züge frei
wird. Die Menschen wechseln, der Bahnhof wird aber nie leer, das Bild ist
Tag für Tag, Nckchk für lLkacht das gleiche.

Stumpfheit? Unverbrauchtheit? Gesundheit? Wer das gesehen hak, legt seine
aus Europa mitgebrachten Maßstäbe endgültig beiseite. Der fühlt: hier ist
etwas vom tiefsten Grund aus anderes am Werke als in Europa.

*

So oft ich kann, besuche ich Theater: Oper, Tendenzstück, Historie, Revue.
Der Schwung, das Zusammenspiel, die Llusgeglichenheit der Vorstellungen
ist bekannt. Es gibt ausgezeichnete Schauspieler, aber keine Stars. Man
möchte sagen: auch keine Rkebenrollen. Nur Ln den mehr literarischen The-
atern bilden sich auch Parade- und Mrtuosenrollen heraus. Dazu werden,
namentlich in der Oper und im Ballett, Favoriken herausgestellt. Das Ten-
denzstück ist merklich im Llbflauen begriffen, besonders groß der Zudrang zu
den Tschaikowskyschen Opern, die in vollendeter Ausstattung gegeben werden.
Mit völliger Unbefangenheit, an der sich mancher Berliner snobistische Re-
gisseur ein Muster nehmen könnte, wird das zaristische Rußland dargestellt.
Man kolportiert ein Wort von Stalin, das, wenn es nicht echt sein sollte,
jedenfalls bezeichnend erfunden ist. Der platten und talentlosen Tendenzstücke
müde, soll er mehr Oper gefordert haben. Darauf aufmerksam gemacht, daß
in „Pique Dame" der Hof Katharinas in aller Pracht gezeigt werde, soll er
geantwortet haben: „Die tote Katharina fürchte ich nicht." Die Staaksoper
erfreut sich der unmittelbaren Fürsorge des Zentral-Exekutivkomitees. Be-
stimmke Ballettausführungen mit bestimmten Tänzern und Tänzerinnen haben
den Charakter von großen Tagen, etwas wie höfische Lust weht im ParkeLL,
wenn droben im strengsten alten, virtnos ausgebildeten Stile, der uns reichlich
verstaubt anmutet, aber rasende Beifallsstürme entfesselt, die Favoritin sich
produziert. In einer Loge sitzt eine würdige alte Frau im Kopftuch, unter
dem Publikum von sehr normal europäischem Aussehen fallen Gestalten anf,
die ihr Emporkommen noch sichtbar und ostentativ aus dem Bürgerkrieg her-
leiten. Es fehlt auch nicht an ersten LlnsäHen zu Theaterklatsch. Kurz: ein

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