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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 6 (Märzheft 1932)
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Alverdes, Paul: Denkrede auf Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0404

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hohen regierenden Conseils in sein Tagebuch schrieb, isi sie ausgedrückt. Es
isi die Gesahr, an welcher ein halbes Menschenalier schäier der unglücklichsie
aller deutschen Dichter, Heinrich von Kleisi, zugrunde gegangen isi. Denn
ihm erscholl in Wahrheii über allem seinem Ringen und Mühen nach Er-
kenntnis das sürchterliche Hohnlachen der Göiier, welchen sie alleine gebühri
und vorbehalien isi. Was aber war ihm eine Weli, in welcher er nichi
wissen konnie und sollie, ob ein Baum wirklich grün war nnd eine Wange
roi, oder ob ihn und alle seine Miimenschen nur ein Gaukelspiel der Ein-
bikdnng äfsie, was konnie es ihm anders sein, als ein grauses Räisel, ein
sinnlos und heillos verslrickies Widerspiel von einander enigegenwirkenden
und einander aushebenden Kräsien, ein ins Verlorene wirbelnder Plunder zu-
leHi, in welchem es nichi mehr lohnie, ja eines des eigenen Wertes gewissen
Geisies nicht mehr würdig war, länger zu leben? — Nicht sehr lange, bevor
er sich ans einer solchen Weli schafste, hatte Kleisi sich Goethen, den er „aus
den Knieen seines Herzens" verehrte, zn nähern versucht. Aber Goethe, der
damals sein sechsies Iahrzehnt vollendet hatte, war ihm ausgewichen, als
sei er mit einer ansieckenden Krankheit behastet. „Ich las und verwunderte
mich", schrieb er nach der Lektüre von Kleisis „Amphitryon", „als über das
seltsamsie Zeichen der Zeit", nnd redete sortan nicht anders von ihm, als von
einem Kranken und Berwirrien, bis er einmal das surchtbar ernsie Bekenni-
nis machte, daß dieses Kleisiische Wesen ihn in seiner innersien Exisienz be-
drohi habe, und daß er ihn hätte von sich weisen müssen, oder sich selbsi
ausgeben.

Denn anch Goethe war diese vorgebliche Verwirrung und Krankheit nicht
sremd, ja sie war eines der geheimen Elemente seines Wesens selber. Wie
osi ging der Iüngling mii dem Gedanken des (Zelbsimordes um, nichi ans
Laune, nicht aus Schwachheit, sondern aus Überschwang seiner Rkatur, die
sich in keiner der menschlichen Daseinssormen jemals Genüge sinden sah.
Noch in den süßen, bedrängten Wohllaui der Iphigenienverse, an denen er
um die Zeit jener Eintragung in sein Tagebuch hier und da beschästigt sein
mochie, klingt der „surchtbare Gesang" des Parzenliedes: „Es fürchte die
Göiter / das Menschengeschlecht! / Sie halten die Herrschast / In ewigen
Händen / lknd können sie brauchen / Wies ihnen gesällt." Iphigenie singi
sie sreilich nur wie erinnernd an eine jetzt vergangene Welt und sleht zu ihren
Göitern, ihr Bild vor dieser Erinnerung zu retten. Die eigentliche poetische
und dramatisch-symbolische Gestaliung und die endliche Überwindung der
Ideen aber, an welchen Kleist zngrnnde ging, geschah im Faust. Er ist in
der Tat der Mensch, der das llnersahrene zu ersahren begehrt, — „daß ich
erkenne, was die Welt im Innersten znsammenhäli, schau alle Wirkungskrast
und Samen und tu nicht mehr in Worten kramen." Er will, ohne jenes
Gelächier der Himmlischen, ein einziges Mal zum Augenblicke sagen können:
„Berweile doch, Du bist so schön."

Vielleichi aber wird hier schon begreislich, warum Goeihe die Handschrist
dieses Gedichtes, das er erst im zweiundachtzigsten, dem Iahre seines Todes
vollendeie, warum er sie Iahr um Iahr verschnüri und versiegeli liegen
ließ und sich nicht mehr daran wagte. 2lls ein Zwanzigjähriger hatte er die
ersten Szenensolgen ans das Papier gestürmt: in einer wühlenden und reißen-

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