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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0522

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sische Neigungen, 2lnfänge neuer sozialer SchichLung. Freilich nicht nach
dem BesiH, sondern nach der politischen ZugehörigkeiL oder nenerdings nach
der Lerstung im Industrialisierungsplan. Solange aber der Angehörige der
sigentlich herrschenden Schicht, der Kommunistischen ParLei, deren Ordens-
charakLer znerst am schärssten wohl Arel de Vries in seinem Buch über die
SowjeLunion erkannt hat, nicht mehr als zoo Rubel bezieht nnd die sonstigen
VorLeile seiner Lebenshaltung nnr an seine keineswegs gesicherte FunkLion ge-
knüpst sind, während der bloß Lechnische Spezialist wesenLlich höher enLlohnL
wird, bleibL die Distanz zwischen Führung und IlnLersührung sehr groß.

Der wesenLliche llnLerschied zwischen dem russischen Bolschewismus und
den europäischen wie amerikanischen SLaaLen bleibL also bis auf weiLeres,
daß er in keiner Weise mit der aus das BesiHbürgerLnm gegründeLen Demo-
kraLie, die vorlänsig noch überall herrschL, selbst im Faschismus keineswegs
verdrängt wird, verknüpft ist. Er hat also, einstweilen, auch nicht mit der
Krise zu rechnen, die überall sonst ans dem Zersall dieser Demokratie ent-
spvingt. Er hat tabula ra83 gemacht und den Versuch unternommen, ganz von
vorn anzusangen. Die DemokraLien Europas können längst nicht mehr aus
der voloute gousralo und ihren AbleiLungen, aus der AuLoriLäL irgendeines
Stimmrechts und ParlamenLarismus, die ganze KrasL des staatlichen Zu-
sammenhalts bestreiten, sondern brauchen miL dem zunehmenden Versall die-
ser demokratischen AuLoriLäten in zunehmendem Maße die Hilfsstellung von
militärischen und bürokratischen ApparaLen. Der SowjeLstaat hat dort be-
gonnen, wo die DemokraLien enden: bei der HerrschafL dieses ApparaLs. Er
verkörperL sich in der G.P.ll., der PoliLischen Polizei. Diese bezieht ihre
unvergleichliche Macht aus ihrer Schlüsselstellnng in ParLei und Armee,
die sich zeitweise um sie wie um einen AngelpunkL drehn. Es ist auch sicher,
daß in schweren WirLschafLs- und StaaLskrisen diese Lypisch russische MachL
den Ausschlag gibt. Sie verkörpert in anonymer und dennoch überall sichtbarer
Weise die Macht des StaaLes, sie ist der realste und in Krisen sicherste
Ausdruck der Imponderabilien, aus denen sich die HerrschafL dieses Systems
zusammenseHL. Sie ist sein wichtigstes Werkzeug bei der Durchführung jener
Anpassung zwischen VolksstrukLur und DokLrin, in ihr liegen aber zugleich
ohne Zweisel die MöglichkeiLen zu einem PrätorianerLum.

Sie scheint allgegenwärtig, ihre BürgerkriegsLradiLion, das Geheime ihres
Bersahrens, die MeLhoden ihrer unappellabeln, unkontrollierbaren GerichLsbar-
keit, die älllseitigkeit ihrer Befugnisse, die absolute Borzugsstellung, die
ihre Angehörigen in der Eisenbahn, den HoLels, den ÄmLern, in der Versor-
gung nnd Bekleidung genießen (sie sind die bestgekleideten Russen in der
Union), ihre anscheinend unbeschränkten MitLel umgeben sie geradezn mit
einem MyLhus. Der Fremde kann ihrer sreundlichen Hilse versicherL sein,
sobald er seinen Paß in Ordnung hak. Der Russe fühlt sie über sich wie
eine unenLrinnbarc und geheimnisvoll unberechenbare SchicksalsmachL.

So oft man mit G.P.U.-Leuten zu Lnn hat, verschwindet alle ProblemaLik
der bolschewistischen Erperimente, jenes kolonisatorischen AnLriebs und seiner
Auswirkung, der KollekLivierung und des Industrieplans, der Anpassung
und der Doktrin, nnd man steht einer realen, echt russischen, in ihrem Wesen
mit der russischen Geschichke verbundenen Macht gegenüber.
 
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