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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
DOI Artikel:
Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0524

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Und zweitens: aus der Tatsache, daß Rußland noch nach Osten offen
und von Europa abgekehrt ist; den unmdlichen östlichen Näumen mit seiner
Kolonisationsbewegung zugewandt.

lbkoch! Mit dem Ungriff des sernen Qstens selbst gerät Nußland sosort in
seine alte Mittellage zwischen Europa und 2lsien, wird es wieder ein Stück
Außeneuropa, für Europa von neuem Wert; aber auch von Europas Schick-
sal in neuer Weise abhängig. Der neue Aufbruch Rußlands in den Osten,
dieses Geheimnis seines Ansangsgesühls, das die bolschewistische Gegenwart
beherrscht, kann zusammen mik der Schwäche Europas die Mächte Asiens
mobilisieren und damit sich selbst die Grenze setzen.

Die Schwäche Rnßlands gegenüber Iapan birgt eine welchistorische Ent-
scheidung, zu welcher der europäische Krieg nur eine Einleituug war. Sie
bedeutet eine Warnung an Enropa, die die letzte sein kann.

Rückblick auf Europa: Frankreich gerät immer mehr in die Rolle des 2llki-
biades: als er in Griechenland nicht mehr der erste sein konnte, ging er zu
den Persern über. Frankreich beginnt Europa nicht nur in Afrika, sondern auch
in 2lsien zu verraten.

*

Unser Erdteil, der gegen sich selbst und seinen Kern, gegen Deutschland einen
Vernichtungskampf führt, der im Zeichen von Versailles sich selbst zer-
sleischt und weder seine Traditionen schützen noch sich von ihnen besreien
kann, nimmt sich von Sowjetrußland her keineswegs als ein Paradies aus.
Und gerade einem Deutschen kann es wohl geschehn, daß er irgendwo in
östlichen Steppen, genau so wie in amerikanischen Wäldern, aus tiefstem
nationalen Lebensdrang mehr Solidarität mit dem künftigeu aussteigenden
Leben dieses sremden Bodens fühlt als mit dem sinster seilschenden Shylock-
Europa der Reparations- und Abrüstungskonferenzm. Hier ist die Ouelle,
aus der die Sowjetunion, die den Einzelwillen so gewaltsam beschränkt,
aber gegen Versailles kämpft und nationale Freiheit verspricht, ein Pathos
schöpft, wie es auch dem N'ichtkommunisten, namentlich aber dem vom west-
lichen Kolonial- und Goldimperialismus Unterdrückten verständlich ist.
Nlchts von dem, was in Rußland möglich ist, ist auf die alten, von 2lppa-
rat und Tradition beschwerten Völker des engen alten Europa anwendbar.
2lber es bleibt eine gewaltige Verführung für die Massen namentlich der
Kolonialvölker, wie für die Massen in Europa selbst, die längst ein dumpfes
Fatum in ein kollektives Schicksal ohne Sinn gebannt zu haben scheint. Und
hier, im Psychologischen, liegt ohne Zweisel die wesentliche Einwirkungsmög-
lichkeit des Bolschewismus. Nicht im „Dumpiug", augenblicklich nicht in der
unmittelbaren weltrevolutionären 2lktion. Könnte man jedem Proletarier
anschaulich machen, wie russisch, wie unübertragbar der Bolschewismus ist,
dann bestünde keinerlei Verführung mehr und eine nüchterne, sachliche Zu-
sammenarbeit wäre möglich. 2lber da das nicht möglich ist, bleibt der Kampf
des krisenerschütterten europäischen Hochkapitalismus gegen das Land ohne
2lrbeitslose, das Land, wo die Produktionsmittel in den Händen der 2lrbei-
ter sind, in der rein seelischen Massenwirkung ungleich. Ilnd vor allem
müssen alle Objekte der westlichen Kolonialpolitik, alle Kulis der Welt von
 
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