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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 7 (Aprilheft 1932)
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Borchardt, Hermann: Russisches Tagebuch, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0525

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der bolschewisLrschen HeilsbotschafL beranschk sein, solange die Kolonialmächte
chr keine neuen eigenen Methoden, sondern nur Kolonialtruppen und Kanonen-
boote entgegenzusiellen haben.

Leeo Luropa! Man sährt wieder heim durch die kleinen Randstaaten, Zoll-
beamte in schicken Ilnisormen beläsiigen höslich mit Gebühren und Äisita-
tionen („man riecht sranzösisches Geld", sagt mein Neisegesährte, ein intelli-
genter deutscher Werkmeisier, kein Kommunist, kein Rußlandenthusiasl, aber
ein Fanatiker seiner besriedigenden Arbeit in Rußland), man betrikt auf-
atmend wieder einen blitzsauberen, mit allem Komsort und einem herrlichen
Büsett versehenen deutschen Bahnhof und sühlt, aus wie weiter Ferne man
heimkehrt. Aber die Freude wird bald wieder seltsam gedämpst. Wie isl
Europa eng, vor Enge natursremd, lebensseindlich, todumwittert! Ilnd doch
ewige Heimat in seiner Gesormtheit, die in zwei Jahrtausenden gewachsen isl,
in seiner gottgewollten GesLalt, mit seiner Geschichte der kleinen Näume
und der großen Seelen. llnd noch ersüllt von dem Rkachhall der unabseh-
baren ungenutzten Weiten, sieht der Heimkehrende: hier, im Kern Europas
ist ein unerhört fein und intensiv ausgebildetes Laboratorium geschassen wor-
den; eine MmsLer- und ZuchtsLätte kulturellen, zivilisatorischen, technischen
RüsLzeugs. Aber das Laborakorium steht ohne Verwendung, das Nüslzeug
isl SelbsLzweck und rosLet oder wird spielerisch weitergesLaltet, ohne Krast,
Phantasie, schöpferischen Willen. Im alten Wien seufzke man: „Wir
schelen alle, wer es weiß, isL klug." Paris lächelt verspielt und verteidigt
sein Spiel grausam verbissen. An anderen Skellen ficht man heroisch gegen
den Versall, wahrt das Dekorum, wurßelt sich durch, im Verkrauen aus das
Glück von sechs Iahrhunderken. Das isL England. In Deutschland aber
zehrt die Arbeitslosigkeit am Lebensmark. Kein schlimmeres Mannesschicksal
als: brachliegen. Kein schlimmeres Iünglingsschicksal als: keine Zukunft
haben. Kein schlimmeres Weibesschicksal als: nicht mehr dem zukünstigen
Leben vertranen können.

Außen-Europa, sowohl Amerika als auch Nußland, wenden sich von Europa
ab und können es doch nicht entbehren. In Europa das wartende RüsLzeug,
die wartenden Menschen, draußen das unendliche warkende Land. Llnd überall
die Drohung des Chaos, das Rasen der Krise, die Verwirrung, die Rat-
und Ziellosigkeit, das hilslose Erperiment, unsicheres, ost verzweiseltes TasLen.
Es ifl, als sähe jeder nur die ihm zugekehrte Hälste der Welt. IsL vielleicht
die Krise nichts anderes als Blindheit sür die andere Hälske? IsL es nicht,
als würde das Bild ruhiger, der KrisensLurm schwächer, als ordne sich das
Chaos, wenn der Blick beide Welten ganz zu umsasseu sucht? Haben End-
gesühle recht, sind sie mehr als subjektiv, solange noch unendliche Erdränme
der schöpserischen Menschenkrast harren? Ilnd isL Europa nur deshalb am
Ende, weil es nicht über sich hinaussiehk? Weil es noch nicht kopernikanisch im
neuen Sinne denken kann, sondern nur europa-zentrisch? Auch soweit es
„kolonial" denkt? Weil es noch nichk seine neue Rolle in der Bewirtschastung
und GesLaltung der Erde erfaßt hat? Weil es noch nicht herausgesunden hat
aus jenen Methoden des Raubbaus und des Pioniergewinns, die das Wesen
des Kapitalismus in den großen Iahrhunderten von i^oo bis heute aus-
machen?

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