Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1932)
DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Die Kluft zwischen den Generationen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0546

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
muß itt ParLeirmg, m Zwist sich darstellen. Darin liegt die Legitimierung des
sugendlichen Ausbrechens nach vorwärts.

Zugleich liegt darin aber auch die Legitimierung der Haltung der Älteren. Iede
kulturelle Llmwälzung, die so einschneidend ist wie die heutige, schwebt in Ge-
sahr, nicht nur die alten Zustände zu verlassen, sondern auch lebensnotwen-
dige Grundlagen des Menschseins überhaupt. Es kann nicht geleugnet werden,
daß die heutige Iugend ost nahe an diese Gesahr herangegangen ist. Was sind
z. B. in der Richtung der sogenannten Sexualresorm sür Lörichte Dinge ge-
predigt und versucht worden! Recht auf freie Verfügung über den eigenen
Körper! Aber was weiß derjenige vom Menschen, der nicht einmal begreift,
daß der Körper dem Menschen gar nicht so gehört, wie Lhm sein Nock oder
seine Stiesel gehören? Daß er mit seinem Körper unter Zwängen, unter Ge-
setzen und Zusammenhängen steht, die der Willkür weitgehend entzogen sind?
Es ist nur eine Spezialsrage, aber an ihr zeigt sich das Allgemeinere, daß es
in vielen Fällen nichk Feigheit, nicht Stumpsheit oder die berühmte Arterien-
verkalkung ist, was die Älteren vor Wagnissen der Iungen zurückhält, son-
dern Wissen; ein Wissen um Gesetze und Zusammenhänge. Und ein echtes
Wissen zu verleugnen, ist die schwerste und die verächtlichste von allen Künsten.
Da ist weiter die Frage der Religion. Nckan sieht in einem Film wie der
„Mutter Erde" die jungen russischen Bauern fröhlich singend einherziehen,
gesunde, prachtvolle Kerle unter hohen Sommerwolken. Ein schönes Bild, an
dem jeder seine Freude haben muß. 2lber wenn i n diesem Bild keine Lüge iß,
so ist doch hinter ihm die schlimmste imd srechste aller Lügen: daß diese
jungen, sröhlichen Menschen nun das Maß sein sollen sür alle; daß nichts
gelten soll, was sie nicht kennen und sassen; daß in ihrem lustigen Marschschritt
nun das ganze Leben zu sühren, alle Probleme zu lösen seien; daß Jugend,
indem sie an dem armen Popen strahlend vorüberzieht, nun auch die Fragen
beantwortet habe, mit denen seine Kutte den Sommertag durchdunkelt. 2lber
sie hat diese Fragen ja nur nebenhin geschoben, sie läust ja nur an ihnen vor-
bei! Ilnd sie weiß nicht diese große, schreckliche Sache, daß der herrliche Som-
mertag, in dem sich mit einer Schönwetterreligion so gut leben läßk, sich un-
versehens in eine kalte, wüste Wirrnis verwandeln kann, sobald diese jungen
Menschen in jene geistigen Tiesen geraten, aus denen ewig das zerstörende
Grauen herauswölkt.

Genng: die Funktion der Älteren ist es, mitten in dem Vorstoß der Iugend
die Verbindung mit den dauernden Grundlagen und Grenzen der menschlichen
Rkatur sestzuhalten. Damit ist nicht ein reaktionäres Festhalken an alten Z u -
ständen gemeint. Die Zustände müssen sich ändern; und sie werden sich
gründlich ändern; wir sind schon mitten darin. 2lber sie müssen die Nckenschen-
sorm behalten. Sie müssen menschengemäße, menschensaßliche Zustände bleiben.
Beides, der Vorstoß der Iugend wie das Festhalten der Älteren, sind gemein-
samer Dienst an der sich entwickelnden Gesamtlage. Die Klust zwischen den
Generationen ist keine Dauerseindschast, sondern ein augenblicklich verschärster
Gegensatz in den Funktionen, eine 2lrbeitsteilung, eine technisch notwendige Zer-
legung der heutigen Lebensdienste in verschiedene 2lrbeiksgänge, die aber alle
demselben Werke zugeordnet sind. Sie spannen sich weit auseinander, aber nur
so können sie die breite Grundlage schafsen sür die neuen Ordnungen, die sällig
 
Annotationen