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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

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Heft 9 (Juniheft 1932)
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Einstein, Alfred: Situation der Oper
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0632

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behrt nicht des Humore — in bie gleiche Kerbe gehcmen und den Grundsatz
aufgeftellt, daß die Partitur des Komponiften erschöpfende Auskunft über
den Auftührungsftil eines Werkes gibt; daß die Partitur und nur die Partitur
als Spielanweisung gelten müsse. PfiHner und Bekker haben beide recht,
und doch sind sie nur bis an den Punkt aegangen, wo das Problem erft be>°
ginnt. Es verfteht sich ganz von selbft, daß man jede Oper im Sinne ihres
Schöpfers aufführen muß; daß der Opernspielleiter, der ein Werk verge^
waltigt, zu juftifizieren ift; daß es einen Punkt gibt, an dem die Frage un-
vermeidlich wird, ob man mit der neuen szenischen Fassung nicht auch die
Fassung der Musik ändern müsse — und hier begänne das Sakrileg. Man
kann nruzeitliche Szenenkunft in vollem, unbefchränktem Maß nur an neuzeit-
lichen Werken üben.

Auf der anderen Seite ift bei der Oper eine rein museale Arbeit unmöglich.
Eine Oper kann nicht „konserviert" werden wie Spargel oder Bohnen-
gemüse; oder wenn das Bild zu kulinarisch ift: man kann Opernintendant
nicht sein im Sinne eines Galeriedirektors, der alte Bilder entweder nach
Schulen hiftorisch zusammenftellt, sie möglichft günftig aufhängt, oder die
höchften Leiftungen ohne Rücksicht auf Zusammengehörigkeit in einem Ehren-
saal, in einer Tribuna vereinigt. Die Oper muß in jeder Aufführung neu
geboren werden. Wenn wir die Uraufführungen des „Don Giovanni", des
„Freischütz", der „Meiftersinger" oder des „Ring" wieder originalgetreu
erleben könnten, so, wie sie von ihren Schöpfern dirigiert oder überwacht wur-
den, wir wären tief befremdet, wir würden sie nur als hiftorische Kuriosität
hinnehmen können. Schon die Erftaufführung des „Paleftrina" von 1917 ift
eine hiftorische Kuriosität geworden; sie ist nach ein paar Iahren unter den
Augen des Schöpfers von Grund aus verändert worden, und auch die Wie-
dergabe der Musik hat sich unmerklich verändert. Der Tonfilm wird viel-
leicht einmal die Möglichkeit geftatten, eine solche Uraufführung dokumen-
tarisch einzufangen und für die Rkachwell aufzubewahren. Das Dokument
wird seinen unvergleichlichen Wert behalten; die Opernspielleiter der Zu-
kunft werden ihre Absichten ehrfurchtsvoll an ihm messen, aber sie werden
es nicht kopieren oder imitieren können. Rkicht bloß Koftüme und Szenen-
bilder veralten. Auch aus einer Partitur kann und muß immer lUeues
herausgelesen werden; wenn das nicht mehr möglich ift, dann ift sie im Sinne
des Theaters tot und muß 36 aeta gelegt werden. Es kann freilich auch dec
Glücksfall cintreten, daß man plöHlich die neue Vitalität, die neue Lebendig-
keit eines bisher als museal angesehenen Stückes entdeckt, so wie man aus
einer verftaubten Ecke einen Rembrandt oder Greco herausholt. Man braucht
bloß an Verdis „Macht des Schicksals" zu erinnern. Unsere ganze „Re-
naissance"-Tätjgkeit ift eine Lotterie mit der Hoffnung auf solche Treffer.
Ich glaube, ich bin am Ende. Und ich glaube, man muß zugeben, daß die
Situation der Oper weniger einfach ift als je. 2lber der Pakienk, wenn er
ein Patient ift, ift nicht hoffnungslos und von den Ärzten bereits aufgegeben.
Schlimm wird es nur, wenn die Oper, weil sie hiftorisch geworden ift, in
Bausch und Bogen abgelehnt wird als „Luxusschöpfung", als „überlebtes
Dokument höfischer und bürgerlicher Kultur". Bei Mozart, Weber, Beet-
hoven, Wagner, Verdi erblüht aus dem Zeitbedingten immer noch und immer
 
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