Auch hier schwächt Wolfenstein das „cleZire" zu einem „muß ich denken" ab.
In der Übersetzung des „Lateau ivre" handelt es sich nun nicht mehr um bloße
Schnitzer oder Geschmacklosigkeiten. Das Mißverständnis liegt tiefer. Diesen Rimbaud
kann Wolfenstein für seine Zwecke nicht brauchen, drum dreht er seinen Sätzen den
Hals um. Hören wir, waS er in seiner Lebensbeschreibung Rimbauds sagt: „Rimbaud
hat doppelt revolutioniert, durch seine oppositionelle Kunst und durch seine Oppc>-
sition gegen sie. Er hat das Zeichen für den aufkommenden großen Zweifel ge-
geben, für die Anzweiflung der Notwendigkeit der Kunst in unserer Zeit. Seine
Abkehr ist eine wuchtige Demonstration, die den Schlag des Weltkriegs in seinem
geistigsten Bezirk vorwegnimmt... es ist bei Rimbaud kein Jndividualismus,
er hat den Willen, sich einzuordnen, ein Anarchist zwar und erfüllt von meta-
physischer Unzufriedenheit, doch zugleich von kollektivischer Bescheidenheit..." ^sa —
alle diese Rezepte sind heute Mode. Man merkt die Absicht. Wir wollen hosfen,
der Übersetzer habe diese Sätze vor seiner Übertragung geschrieben. Denn das
hieße dann wirklich zu tapfer sein, wollte man nach dem Erleben der Rimbaudschen
Welt noch zu so handfesten Kategorien den Mut haben. Wenn Rimbaud auch
den entscheidenden Schritt getan hat zur Welt der bloßen Sachbezogenheit und diese
bezahlt hat mit ungeheuerlichem Schweigen, mit einem ganzen Werk, so sind wir
doch sicher nicht diejenigen, die ein solches Opfer geschäftstüchtig vor den Wagen
unserer Jdeen spannen dürften. Wolfenstein hat nur den gleichsam politisch zu
wertenden und ausnutzbaren Nimbaud wirklich verstanden. Für diefe Seite von
Rimbauds Wesen hat er anch eine Übersetzung gefunden, die den Preis verdient. Dinge
wie „Paris bevölkert sich wieder", „Die verstörten Kinder" oder auch das ganz
von ferne hier einzuordnende „Gestohlene Herz" sind auch in ihrer Freiheit übev-
zeugende Übersetzungen. Aber für die so qualvoll verschwiegene Kindlichkeit Rim-
bauds, die seiner Reife erst den eigenen Ton gibt, hat Wolfenstein keine Ohren.
Und doch heißt das Rimbaud seiner eigentlichen Tragik berauben und uns der
wahren Demut der Würdigung. Wenn uns dieser Dichter wirklich auf eine neue
Ebene des Ausdrucks und des Bewußtseins gehoben hat, so tat er es als ein
Geopferter. Was Natur dem Menschen sonst fromm im Dunkel verwahrt sich
klären läßt, bis es sich mit der Klarheit des Geistes messen kann, das deckte hier
unerbittliches Schicksal auf in seiner ganzen urweltlichen Phantastik. Prophetie?
Ja, aber dürfen wir uns vermessen, uns das Volk dieses Propheten zu nennen?
An sich brauchte man sich mit dieser Übersetzung nicht so lange zu beschäftigen.
Weder ist ihr deutscher Klang beglückend, noch auch lernen wir in ihr Rimbaud
unverfälscht kennen. Aber es ist die Tatsache, daß es Leute gibt, die eine solche
Arbeit auszeichnen. Es ist die Tatsache, daß uns neben vielen anderen auch die
Maßstäbe für wahres Übersetzen verlorengegangen sind. Man „dichtet nach", weil
„übersetzen" nach Schule riecht. Und vor lauter Nachdichten gehen die wirklichen
Dichtungen drauf. Gerade diese Nachdichtung von Wolfenstein, die so oft die At-
mosphäre Rimbauds wirklich wiedergibt, beweist, daß das letztlich nicht genügt. Man
wird sich eben doch bequemen müssen, wieder zu dem altmodischen Rezept der Treue
zurückzukehren. Und je freier ein Werk ist, je dunkler, desto behutsamer ist es an-
zufassen. Dunkle Kunst ist oft solche, für die wir noch blind sind. Da helfen keine
bengalischen Beleuchtungen, da heißt es ganz einfach warten oder in Sachtreue
das Gesehene ohne Mogeln darstellen. Ein guter Dichter und ein mäßiger Nach-
dichter geben nicht anderthalb Dichter. Wohl aber bleibt ein guter Dichter unter den
Handwerkerhänden eines ehrfürchtigen Übersetzers ein guter Dichter.
Deutschland rühmt sich gerne und mit Recht, ein Übersetzervolk zu sein. Und es
besitzt sicher eine Sprache, die, wie auf mittelalterlichen Tafeln die heilige Jung-
frau, begnadet ist, viele Völker unter ihrem Mantel zu bergen. Aber der Geist
der Verantwortlichkeit ist diesen Möglichkeiten gegenüber nicht mehr streng genug.
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In der Übersetzung des „Lateau ivre" handelt es sich nun nicht mehr um bloße
Schnitzer oder Geschmacklosigkeiten. Das Mißverständnis liegt tiefer. Diesen Rimbaud
kann Wolfenstein für seine Zwecke nicht brauchen, drum dreht er seinen Sätzen den
Hals um. Hören wir, waS er in seiner Lebensbeschreibung Rimbauds sagt: „Rimbaud
hat doppelt revolutioniert, durch seine oppositionelle Kunst und durch seine Oppc>-
sition gegen sie. Er hat das Zeichen für den aufkommenden großen Zweifel ge-
geben, für die Anzweiflung der Notwendigkeit der Kunst in unserer Zeit. Seine
Abkehr ist eine wuchtige Demonstration, die den Schlag des Weltkriegs in seinem
geistigsten Bezirk vorwegnimmt... es ist bei Rimbaud kein Jndividualismus,
er hat den Willen, sich einzuordnen, ein Anarchist zwar und erfüllt von meta-
physischer Unzufriedenheit, doch zugleich von kollektivischer Bescheidenheit..." ^sa —
alle diese Rezepte sind heute Mode. Man merkt die Absicht. Wir wollen hosfen,
der Übersetzer habe diese Sätze vor seiner Übertragung geschrieben. Denn das
hieße dann wirklich zu tapfer sein, wollte man nach dem Erleben der Rimbaudschen
Welt noch zu so handfesten Kategorien den Mut haben. Wenn Rimbaud auch
den entscheidenden Schritt getan hat zur Welt der bloßen Sachbezogenheit und diese
bezahlt hat mit ungeheuerlichem Schweigen, mit einem ganzen Werk, so sind wir
doch sicher nicht diejenigen, die ein solches Opfer geschäftstüchtig vor den Wagen
unserer Jdeen spannen dürften. Wolfenstein hat nur den gleichsam politisch zu
wertenden und ausnutzbaren Nimbaud wirklich verstanden. Für diefe Seite von
Rimbauds Wesen hat er anch eine Übersetzung gefunden, die den Preis verdient. Dinge
wie „Paris bevölkert sich wieder", „Die verstörten Kinder" oder auch das ganz
von ferne hier einzuordnende „Gestohlene Herz" sind auch in ihrer Freiheit übev-
zeugende Übersetzungen. Aber für die so qualvoll verschwiegene Kindlichkeit Rim-
bauds, die seiner Reife erst den eigenen Ton gibt, hat Wolfenstein keine Ohren.
Und doch heißt das Rimbaud seiner eigentlichen Tragik berauben und uns der
wahren Demut der Würdigung. Wenn uns dieser Dichter wirklich auf eine neue
Ebene des Ausdrucks und des Bewußtseins gehoben hat, so tat er es als ein
Geopferter. Was Natur dem Menschen sonst fromm im Dunkel verwahrt sich
klären läßt, bis es sich mit der Klarheit des Geistes messen kann, das deckte hier
unerbittliches Schicksal auf in seiner ganzen urweltlichen Phantastik. Prophetie?
Ja, aber dürfen wir uns vermessen, uns das Volk dieses Propheten zu nennen?
An sich brauchte man sich mit dieser Übersetzung nicht so lange zu beschäftigen.
Weder ist ihr deutscher Klang beglückend, noch auch lernen wir in ihr Rimbaud
unverfälscht kennen. Aber es ist die Tatsache, daß es Leute gibt, die eine solche
Arbeit auszeichnen. Es ist die Tatsache, daß uns neben vielen anderen auch die
Maßstäbe für wahres Übersetzen verlorengegangen sind. Man „dichtet nach", weil
„übersetzen" nach Schule riecht. Und vor lauter Nachdichten gehen die wirklichen
Dichtungen drauf. Gerade diese Nachdichtung von Wolfenstein, die so oft die At-
mosphäre Rimbauds wirklich wiedergibt, beweist, daß das letztlich nicht genügt. Man
wird sich eben doch bequemen müssen, wieder zu dem altmodischen Rezept der Treue
zurückzukehren. Und je freier ein Werk ist, je dunkler, desto behutsamer ist es an-
zufassen. Dunkle Kunst ist oft solche, für die wir noch blind sind. Da helfen keine
bengalischen Beleuchtungen, da heißt es ganz einfach warten oder in Sachtreue
das Gesehene ohne Mogeln darstellen. Ein guter Dichter und ein mäßiger Nach-
dichter geben nicht anderthalb Dichter. Wohl aber bleibt ein guter Dichter unter den
Handwerkerhänden eines ehrfürchtigen Übersetzers ein guter Dichter.
Deutschland rühmt sich gerne und mit Recht, ein Übersetzervolk zu sein. Und es
besitzt sicher eine Sprache, die, wie auf mittelalterlichen Tafeln die heilige Jung-
frau, begnadet ist, viele Völker unter ihrem Mantel zu bergen. Aber der Geist
der Verantwortlichkeit ist diesen Möglichkeiten gegenüber nicht mehr streng genug.
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