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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI issue:
Heft 10 (Juliheft 1932)
DOI article:
Ullmann, Hermann: Das deutsche Ringen um Gestalt: Brief an einen jungen Freund
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0701

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gefochten wird, ist verschieden. Das eine Volk behavptet seinen Lebenskern ge-
gennber den äußeren Änderungen durch Revolutionen, das andere durch orga-
nische allmähliche WeiLerbildung. Eutscheidend bleibL immer, ob jener Persön-
lichkeiLskern die KrafL hak, sich schöpferisch gegenüber dem Nur-lbkeuen durch-
zusetzen. Überall enLslehen Schwebezustände, Zerrungen. Während auf der
einen Seike krampfhaft alteFormen festgehalten werden, in dem Streben, den
PersönlichkeiLskern zu retten, wird auf der anderen Seite das Neue begierig
aufgenommen und bloße Anpassung für schöpferische Gestaltung gesetzt. In
diesem Schwebezustand zu verharren, hat das deutsche Volk besondere Äulage.
Eine Mischung von reaktionärer Starrheik und doktrinärem Radikalismus
ist unsereu Zuständen seit dem Ausgang des Mittelalters eigentümlich. Rkir-
gends sind die poliLischen Genies, die eine neue GestalL der Nation über das
bloße Reich des Dichtens und Denkens hinaus suchten, unglücklicher gewesen
als in Deutschland. Sie wurden alle einsame Fragmentaristen, ihr Werk blieb
Torso. Rkirgends gingen die Revolutionen Liefer in die Problematik des Staates
hinab und nirgends blieben sie so sehr in der ProblemaLik stecken. Nrben der
GestaltnngskrafL der deutschen Einzelnen, der Spezialgenies, blieb die Ge-
staltungskraft der Rlation unentwickelL.

Auch jetzt wieder erleben wir, nicht nur infolge materieller und biologischer
Schwäche als die „BesiegLen", die Krise Liefer als irgendeiu Volk. Weder die
feste BegriffswelL des sich selbst als Missionsziel seHenden Franzosentums,
noch die pragmatische Standfestigkeit des AngelsachsenLums, noch der Schwung
starker AuLosuggestionen wie in Italien und Rußland LrennL uns von dem un-
miLLelbaren Ansturm der „neuen WirklichkeiL". Kein Lebensgebiet bleibt un-
berührt, alles wird fraglich bis in die lehten Winkel unseres nationalen Selbst-
bewußtseins hinein, unsere EinheiL als StaaL und Vvlk steht stündlich auf
dem Spiele. Dabei Lun sich ohne Zweifel in ihrer Lragischen Größe erhabene
Llusblicke auf die leHLen HorizonLe des Menschentums auf. Es mag sein, daß
wir in den Erlebnissen dieser aufs leHLe erschüLLerten Iahre die ErkennLnisse
und Möglichkeiten neuer geistiger Gestaltungen empfangen, die einst der
MenschheiL zugute kommen werden. Aber daß man einem ganzen Volk, aus
der NvL eine Tugend machend, die Rolle eines MärLyrers zumutet — dagegen
wehrt sich der nationale Lebenswille. Und wenn dieser SpannungsreichLum
manche mit einer 2lrL geistigen Genusses, ja Rausches erfüllt, selbst oft über
eine wenig gesicherte persönliche Lebenssituation hinweg, so kann solche Euphorie
doch auch etwas Blasphemisches annehmen; angesichts der Millionen von nicht
nur leiblich, sondern auch seelisch Verkümmernden, zumal die Krise keineswegs
eine Auslese nach „oben" schafft und es keineswegs die Wertlosesten sind, die ihr
unkerliegen. Der innere Glanz, den manche Beobachter am SchreibLisch über
diesem ewigen Werden des deuLschen Volkes liegen sehen, erinnert fatal an seeli-
sche HungerphanLasien, hervorgerufen durch allzu großen Abstand vom wirk-
lichen Leben. Und die säkulare LäuLerung, die manchen FanaLikern der disku-
Lierenden Llskese über das deutsche Volk wie ein heilsames Fegefeuer gekorw
men scheint, erinnert verdächLig an das Stahlbad, in das RomanLiker eines nicht
voll ausgekosteLen Gefühls die Kämpfer steigen sahen.

Nein, weder das herostraLische Schwelgen in der Krise noch die romantische
Freude an der deutschen Problematik ist mit TapferkeiL gegenüber der Wirk-

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