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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1932)
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Wiechert, Ernst: Über neurussische Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0735

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gerten, verdarben. Auf der die Töchber des russischen Adels nm eine Brotrinde ihren
Leib verkauften. Auf der die Frauen russifcher Gardeosfiziere zwifchen Schneewehen
ihre Kinder gebaren, indes die Kameraden ihrer Männer mit ihren zerrissenen Män-
teln den Anblick eines heiligen Gefchehens vor fremden Augen fchühten. Es war der
letzte Versuch der Rettung vor dem Bolfchewismus, und in jenem hiftorischen Augen-
blick, als Koltfchak den zitternden Rotgardisten, deren Gewehrmundungen auf ihn
gerichtet waren, „Feuer!" zurief, zerbrach die alte russifche Welt und die neue Erde
begann für den Raum zwifchen der Oftsee und dem Stillen Ozean. Aus dieser neuen
Erde sind sie aufgeftiegen: Kommunen und Sowjets, Traktoren und Zementwerke,
das Mausoleum LeninS und die Komsomolzen, Äthersprüche „An Alle" nnd der Po-
temkinfilm, Gottlosenpropaganda und neurussifche Dichtung. Aber während das
meifte davon im Nebel der Gerüchte und gefärbten Reportagen, zwifchen dem Bilde
des Messias und des Antichrift unklar und undeutlich geblieben ift, hat die rätsel-
volle öftliche Welt eine ihrer Projektionen an den weftlichen Himmel geworfen und
ohne Verzerrung vor unsere Augen geftellt: ihre neue Dichtung.

Diese neue Dichtung ift zehn Jahre alt, und man könnte meinen, durch eine zehn-
jährige Dichtung einen Querschnitt zu legen, wäre so leicht wie einen Querfchnitt
durch einen zehnjährigen Menfchen zu legen: Begabung mehr als durchfchnittlich,
Fleiß lobenSwert, Betragen nicht immer tadelfrei. Aber davon abgesehen, daß zu
diesen Querfchnitten der zweiten Art ein so seltener Pädagoge wie Kerschenfteiner
gesagt hat, daß unsere Einsicht sehr klein und unsere Dummheit sehr groß sei, wird
einleuchten, daß das geiftig-fchöpferifche Profil eines erfchütterten Riesenvolkes nicht in
einer klaren Linie verlaufen kann. Und es wird gut sein, zunächft nach den Ansatz-
punkten zu suchen, bei denen die Zeichnung beginnen kann.

Sowjetkunft ift Zeitkunft. Mit dieser Erkenntnis muß begonnen werden. Sie ift es
auch, die den Gegensatz zur russischen Dichtung vor dem Weltkriege auSmacht. DaS
Werk Tolftojs umspannt den Raum von „Krieg und Frieden" bis zum „Tod des
^wan ^ljitfch", das Werk Doftojewskis den Raum von den „Memoiren aus einem
Totenhaus" bis zum „Jdioten". Hiftorifches, Biographifches, ReligiöseS, Zeitliches
und Ewiges sind in ihm vereinigt. Nur ein Spieler fteht auf ihrer Bühne: der
russifche Mensch, genährt von seiner Erde, erfüllt von sei'nem Gott, zerrissen von
seinem Dämon. Gewiß, sie waren in ihre Zeit geftellt, die Raskolnikow wie die
Wronskij, die Karamasow wie die Mifchkin, aber ihre Dämonie wuchs nicht aus
ihrer Zeit, sondern aus ihrer Seele, aus dem Chaotifchen und blferlosen ihrer menfch-
lichen Spannungen, auS der tragifchen Melancholie ihrer Erde. Zeit, Gesellfchaft,
Klasse, Programm waren der dämmernde Hintergrund, vor dem die Tragödie des
JndividuumS aufbrannte und erlofch. Zeit, Gesellschaft, Klasse, Programm sind
heute der leuchtende Vordergrund vor den verdämmernden Schatten deS Jndividunms.
Die künftlerifche Autonomie des Einzelmenfchen ift verblaßt zu einem Exponenten der
Weltanfchauung. Menfch und Dichtung sind Funktion der Zeit geworden. „Der
Kommunift hat keine Biographie." Die Dichtung ift ein Mittel zum Zweck.

An der Spitze dieser „Gewerkfchaftspoesie" ftehen die Romane der Gladkow,
Leonow und Panferow. Stehen „Zement",* „Aufbau", die „Genossenfchaft
der Habenichtse", die „Kommune der Habenichtse". Eindeutig in den Titeln, den
Stofsen, dem Strl, der Absicht, der ethifchen Grundhaltung. Was sie geben, ift das
Bild des in Sorgen, Schmerzen, Krämpfen und fanatifcher Gläubigkeit auffteigen-
den Rußland von heute. Einer sich an eine Jdee verftrömenden und sich für sie
opfernden Gemeinfchaft, glücklos, besitzlos, ruhmlos. Was hier in diesen Büchern
arbeitet, arbeitet wie unter der Peitfche eines apokachptifchen ReiterS. Gleichviel

* Der große Roinan Gladkows, „Neue Erde", konnte zu dieser Arbeit leiöer niiht mehr be-
rückfichtigt werden.

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