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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 45.1931-1932

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1932)
DOI Artikel:
Ullmann, Hermann: Vom Volk zur Nation
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https://doi.org/10.11588/diglit.8819#0845

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freilich von den besonderen ösierreichisck>en und katholischen Voraussehungen
ausgehend, besonders ansck>aulich dargestellt*: „Es löst sich eine Schnr von
Menschen aus dem natnrhasten Zusammenhang der verwandten Stämme
und ergreist ein Land als das thre, das sie sürder deswegen liebt, weil es
das ihre ist und mit dem sie durch tausend Fasern verwächst — sie wird ein
Volk. Und wieder erwirbt eine größere Zahl von Menschen einen SchaH
geistiger Güter; dieses BesiHes wird sich die ganze Gruppe nach und nach
bewußt, sie lernt ihn vom geistigen BesiHstand anderer unterscherden, sie
liebt ihn als den ihrigen, sucht ihn sich zu erhalten und zu vermehren —
sie ist eine Rsation... Ohne sich an die schon bestehende Scheidung in
Stämme, Völker und Nütionen zu halten, beugt sich eine Melheit von Men-
schen unter eine h^öchste Autorität, der sie allgemeine Wohlsahrt anvertraut
— sie beginnt in einem Staat zu leben." „Volk und Nation unterscheiden
sich dadurch, daß zum Begriff des Bolkes das Merkmal der Verbindung mit
einem bestimmten Boden, des Zusammenwohnens in einem Land gehört,
während räumliche Trennung, möge sie noch so groß sein, die Zusammen-
gehörigkeit zu einer Nation nicht aushebt, solange nur der wechselseitige 2lus-
tausch lder Kulturgüter nicht unterbunden wird. In eine ganz andere Reihe
gehört der Begrifs des Staates." Diese Schilderung ist sür unsere heutige
Kenntnis sicherlich zu primitiv, der damals, 1916, geformte Seipelsche Be-
grifs der Nation nähert sich zu sehr dem überholten Meineckeschen Begrifs der
„Kulturnation", und sein Staatsbegrifs ist ohne Zweifel damals zu ratio-
nalistisch gewesen. Seipel ist selbst über seine damaligen Desinitionen hin-
ausgelangt. Wir fassen den Begriss der Nation aktiver, wir verstehen
darunter das in einer bestimmten W i l l e n s r i ch tu n g geeinte, seine
rnuere Einheit als von Gott geseHte Aufgabe erfassende
und sür sie kämpfende Volk, und der Staat ist uns zwar eine „höchste
AutoritLt", aber wir vertrauen ihm mehr als unsere „Wohlsahrt" an. Jm
übrigen werden alle Bemühungen um begrifsliche Klarheit sich an das eben-
salls Seipelsche Wort zu halten haben: „Die Kräste, die zur Bildung des
Volkes und der Rkation sühren, gelangen nicht zum Stillstand, wenn sich
diese Organisationen entwickelt haben. Sie wirken weiter; daher kommt es,
daß Volk und Rkation, so klar und sestumrissen diese beiden Begriffe vor uns
stehen, in der Welt der Wirklichkeit etwas Unbeständiges, Fließendes, ewig
Wechselndes sind." Entscheidend bleibt sür uns Deutsche jedensalls die Er-
kenntnis: „Staat und Rsation sind die Endglieder zweier ganz verschiedener
Entwicklungsreihen. Der Staat ist seiner Rsatur nach nicht notwendig das
Produkt einer N^ation, ausnahmsweise kann er es sein. Ilnd umgekehrt geht
auch die nationale Einheit nicht notwendig aus die Zusammenfassung einer
Vielheit von individuellen Familien und Stämmeu in einen Staat zurück."
Unser deutsches Schicksal wird nun entscheidend davon bestimmt, daß Volk,
lUation und Staat, ihr Nsbeneinander und ihre Wechselwirkung bei uns aus
einer ganz anderen Stufe der Entwicklung stehen als bei den Bölkern, Rkatio-
nen und Staaten, mit denen wir um unseren Bestand ringen.

*

* Nacion unö Skaat. Wien, >916.

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