Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 7.1932

DOI Artikel:
Riezler, Walter: Die Kluft
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13707#0061

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Kluft

W. R I E Z L E R

Mit jedem Jahre mehren sich die Fälle, wo ein
Bau von ausgesprochen moderner Haltung in un-
mittelbarer Nachbarschaft alter Bauten errichtet
wird. Da so etwas nicht ohne baupolizeiliche
Genehmigung geschehen darf, bedeutet jeder
dieser Fälle ein Erlahmen des Widerstandes, der
zwar in manchen Städten immer noch sehr heftig
ist und vor allem durch das Beharrungsvermögen
der öffentlichen Meinung gestützt wird, der sich
aber eben doch nicht überall mehr durchzu-
setzen vermag, über den symptomatisch wich-
tigsten Fall haben wir im letzten Jahrgang be-
richtet: Er betrifft den Anbau an das Kurhaus in
Berchtesgaden, wo ein „sich vorsichtig an-
gleichender" barockisierender Entwurf auf Be-
treiben ausgerechnet des „Bundes für Heimat-
schutz" zugunsten eines modernen abgelehnt
wurde. Die darin liegende Anerkenntnis ist in
doppeltem Sinne erfreulich: man rechnet nun-
mehr mit der neuen Baukunst als mit einer festen
Tatsache— und man hat offenbar auch so vielVer-
trauen zu dem Neuen, daß man es nicht mehr für
nötig hält, die alten Bauten vor der ihre Wirkung
gefährdenden Nachbarschaft zu bewahren. Und
wenn auch diese Fälle einstweilen noch in der
Minderzahl sind, so werden sie sicherlich bei-
spielhaft wirken: wenn überhaupt irgendwo der

Beweis geliefert ist, daß Alt und Neu sich nicht
gegenseitig stören, sondern ganz gut neben-
einander existieren, ja sogar unter Umständen
zu einer neuen Harmonie zusammengehen kön-
nen, dann werden sehr bald auch die noch
Widerstrebenden sich fügen.

Damit ist nichts Geringes erreicht. Man denke
daran, wieviel Unheil noch vor wenigen Jahr-
zehnten dadurch angerichtet worden ist, daß
man sich verpflichtet fühlte, die alten Stadt-
viertel vor dem Eindringen des Neuen zu
schützen, und da, wo sich Neubauten nicht ver-
meiden ließen, grundsätzlich die stilistische An-
gleichung an das Alte forderte. Ganze Städte
von größter Eigenart sind dadurch für immer ent-
stellt worden: man denke an Hildesheim, an die
Frankfurter Altstadt oder an die herrlichen Ba-
rockstraßen in München. Das in die Augen
fallendste Beispiel ist die jammervolle Zer-
störung der Umgebung des Berliner Schlosses
durch Dom und Bibliothek. Die Zeit ist vorbei
— nur in München baut man zum Teil heute noch
nach diesem Grundsatz, wie unter anderm der

vor kurzem erst vollendete Anbau an die Tech-
nische Hochschule beweist, der sich dem histori-
sierenden Charakter der Umgebung ungeachtet
der doch wahrlich „modernen" Bestimmung des
Baues völlig unterordnet.

Man sei nicht ungerecht: von dem eben er-
wähnten Münchener Beispiel abgesehen, darf
das, was geschehen ist, nicht zu hart beurteilt
werden. Denn schließlich hielt man die histo-
rischen Formen für die einzig möglichen, und da
war es nicht weiter wunderbar, daß man, von
dem Gefühl der eigenen Unterlegenheit tief
durchdrungen, mit einiger Zaghaftigkeit vor den
alten Bauten stand. (Nur schade, daß man, wie
besonders das Berliner Beispiel beweist, dieses
Minderwertigkeitsgefühl durch gespielte Brutali-
tät zu überkompensieren suchte!) Immerhin hätte
man den auch damals vorhandenen feinen
Talenten die wichtigsten Aufgaben anvertrauen
können: Der Anbau an das Bremer Rathaus be-
weist, wie „gut" man damals bauen konnte.
Aber auch später, als man anfing, nach einer
eigenen Formensprache zu suchen, konnte man
seiner Sache nicht gleich so sicher sein, daß man
sich an die alten Bauten heranwagen durfte.

Vielleicht war es ein ganz richtiges Gefühl, das
davor warnte: die neue Formensprache war noch

zu wenig in sich gefestigt, zu wenig „objekti-
viert", als daß sie sich in der Nachbarschaft
irgendeines früheren Stiles hätte behaupten
können. So war wohl das Unheil ganz nicht zu
vermeiden, und es war ein böses Schicksal — für
Deutschland schlimmer als für die anderen Län-
der —, daß gerade damals soviel gebaut
wurde: der äußere Aufschwung, die wirtschaft-
liche Ausdehnung trafen zusammen mit einer Zeit,
die ihrer selbst innerlich unsicher war. Denn nichts
anderes als diese innere Unsicherheit findet ihren
Ausdruck in der Baukunst jener Epoche.

Und darin — nicht in einer Wandlung unserer
ästhetischen Anschauungen — liegt der eigent-
liche Sinn dessen, was wir auf dem Gebiete der
Baukunst heute erleben: die unerhört neue und
dabei ganz unpersönliche, in einem gewissen
Sinne sogar „unbewußte" Formensprache, die
sich mit jedem Jahre sicherer und unwidersteh-
licher durchsetzt, bedeutet nichts anderes, als
daß sich, aller äußeren Unsicherheit und Ver-
worrenheit zum Trotz, in irgendeiner Tiefe eine
Neuordnung unserer kulturellen Struktur vor-

41
 
Annotationen