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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 27.1929

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Heft 4
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Basler, Adolphe: Völkerbund der Malerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7608#0181

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HENRI MATISSE, DIE SCHWESTERN. 1916

AUSGESTELLT BEI DR. ALFRED GOLD, BERLIN
MIT ERLAUBNIS DER D. D. A. (GALERIE A. FLECHTHEIM)

ein russischer Bilderbogenmaler, in dessen Delirium
etwas Amüsantes liegt.

Mit Matisse gelangen wir aus der dramatisch
oder poetisch wiedergegebenen Wirklichkeit in
eine Gestaltungswelt, in der die Formen, gleich-
sam dematerialisiert und auf ihre unmittelbare Wir-
kung beschränkt, nur noch auf dem Wege der
Übertragung an die Wirklichkeit erinnern. Ein
feinster Extrakt aus der physischen Welt bemäch-
tigt sich unserer Sinne, übt seine betäubende
Wirkung aus, steigt uns brennend in die Augen
wie mancher kunstvoll bereitete, Fieber erregende
Coctail und setzt unser ganzes Empfindungsver-

mögen den Strahlen einer vom Licht erhöhten
Farbenpracht aus.

Matisse kümmert sich nicht darum, uns eine be-
stimmte Auffassung von irgendwelchem Menschen-
tum zu geben. Er will weder das Herz erregen,
noch den Verstand verwirren. Seine kaum model-
lierten menschlichen Gestalten verraten nicht besser
ihr Sein, als ein Möbelstück, eine Blume, ein Teppich
oder ein Stück Zeug in einem Bildraume, der von
ihm wie ein Konzert von nebeneinandergesetzten
Tönen aufgefaßt ist, in dem jeder seine eigene
Stimme singt, wie ein Spiel der Oberflächen und
Proportionen, in dem die Formenstellung des Details
zur Harmonie des Gesamtbildes beiträgt.

Glücklicherweise besitzt Matisse ein fein emp-
findendes Auge, eine große Sicherheit im Zergliedern,
eine gesunde Empfänglichkeit der Sinne und die
Begabung zum energischen Zeichner und voll-
blütigen Koloristen; so blieb er davor bewahrt,
weder in den kunstgewerblichen Stil noch in eine
gewisse malerische Wortemacherei zu verfallen.
Er kam durch seinen plastischen Symbolismus
schon einem Mönche vom Berge Athos nahe. Aber
die Geistigkeit der byzantinischen Maler ging ihm
weniger zu Herzen als die warme Intimität jener
letzten Maler der Gesellschaft, Bonnard und Vuillard,
die, Erben der großen Impressionisten, ganz ein-
fach alle Heiterkeit des Lebens in dekorativen
Bildern ausdrückten, in denen der Pulsschlag der
Wirklichkeit fortschlug. Diese beiden Künstler
haben ihre einfache Unabhängigkeit zu bewahren
verstanden und haben niemals, wie man sagt, über
die Stränge geschlagen. Die Malerei Bonnards hat
nicht den Intellektualismus eines Matisse, dafür ist
sie aber auch weniger körperlos und bezaubert
uns durch ihre Leichtigkeit. Bonnard ist sogar
vielseitiger, menschlicher, obgleich ungleichmäßiger.
Jedoch in seinen gelungenen Bildern beherrscht
er nichtsdestoweniger die Oberfläche und be-
handelt Form und Farbe mit einer seltenen Emp-
findsamkeit und reizend vertraulicher Laune. Seine
Bilder sind oft Meisterwerke des Natürlichen. Ich
habe kürzlich im Sprechzimmer eines Arztes dessen
von Bonnard gemaltes Porträt gesehen. Die Wände
hingen voll von teuflischen Rouaults, unter denen
ein Hans-guck-in-die-Luft und seine Mitspieler aus
der Jahrmarktsbude in Neuilly durch ihren kari-
katurenhaften Gehalt das Bild des Arztes fade er-
scheinen ließen. Es ist so, daß die Einfachheit des

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