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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 27.1929

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Heft 8
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Mayer, August Liebmann: Die Entkörperlichung des Künstlers
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https://doi.org/10.11588/diglit.7608#0349

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Das bildnerische Kunstwerk wandelt sich wie
das poetische und musikalische zum anonymen
Meisterwerk, dem Volkslied vergleichbar. Die Per-
sönlichkeit des Künstlers wird gewissermaßen ent-
materialisiert.

Die Pyramiden, der Apoll von Tenea, die
Agineten, die Venus von Milo, die mittelalterlichen
Kathedralen, die Naumburger Domfiguren besitzen
ihre Größe als anonyme Meisterwerke, wie das
Nibelungen-Lied, es sind Kathedralen, an denen
das ganze Volk mitgebaut hat, wie an der Bibel.
Daß sieben Städte sich darum streiten, die Heimat
Homers zu sein, ist nur ein Ausdruck dafür, daß
eben Homer die Gesamtheit der Griechen bedeutet.
Und was nutzt es, wenn wir den Namen des
Schöpfers eines unbekannten Meisterwerkes er-
fahren, wird unsere Anschauung bereichert, wird
die Wirkung der Werke verändert? Ist uns der
Meister Erwin von Straßburg wirklich eine plasti-
sche Erscheinung?

Man mag vielleicht darauf verweisen, was wir
alles von Michelangelo wissen, wie uns dieses

Wissen das Verständnis für die Werke des Künst-
lers erleichtert. Aber dieses Wissen, das Herein-
tragen von biographischen Details, von mensch-
lichen Intimitäten schadet oft dem wirklichen Genuß,
der absoluten Erfassung des Kunstwerks in seiner
Wesentlichkeit als einer zeitlos großen und über die
Zeit hinaus wachsenden und gewachsenenSchöpfung.

Der große Künstler muß schaffen, einerlei ob
irgendein Ehrgeiz vorhanden ist oder nicht, einerlei
ob sein Ehrgeiz befriedigt wird oder nicht. Der
Ruhm der Schöpferpersönlichkeit kann nur sehr
bedingt als ein Ansporn für den äußerlichen Ehr-
geiz eines Künstlers betrachtet werden. Das Tra-
gische in der Künstlergeschichte ist identisch mit
dem tragischen Moment der Prophetengeschichte,
des Wesens alles Prophetentums: die unausgeführten
Pläne, die gescheiterten Aufträge sind, um sich des
Wortes des Propheten Jesaia zu bedienen, der „ge-
schärfte Pfeil im Köcher des Herrn". Gleich den
Propheten sind die Künstler mit göttlichen Sen-
dungen betraut. Ihr Werk, oft nur ein Werk,
bleibt, ihre Person fällt ins Dunkel zurück.

HANS MEID, ZWEI VASEN FÜR DIE BERLINER PORZELLAN MANUFAKTUR. 1927

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