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Die Venus von Milo.
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biduums und selbst als Jndividuum betrachten, um sie
^ sich sclbst zu erklären. Zu diesem Zweck ist es
^thwendig, die Darstellungsweise festzustellen, welche
in ihr entgegentritt. Die anatomische Untersuchung
^ist nach, daß wir die dramatische Darstellungsweise
uns haben, nicht die typische, d. h. daß dcr Körper
einem Moment dargestellt ist, der nur als Ueber-
Tangsmoment im Verlauf einer Handlung denkbar ist,
"lcht aber in einer Haltung, welche in uns das Bewußt-
stin der Zeit und eines historischen Geschehens gar nicht
^achrnft, sondern ein derartiges ruhiges Verhalten auf-
^igt, welches uns nur den dauernden, sich gleichbleibenden
^esammtcharakter fühlbar macht. Sodann ist die Eigen-
^ümlichkeit der Körperhaltung zu untersuchen. Diese
^igt ein Vortreten der linken Seite am Unterkörper
ein gleichzeitiges Zurückweichen derselben linken
^eite am Oberkörper, ferner eine Erhöhung der linken
^chulter und Senken und Borwärtsbeugen der rechten
^chulter — Verhältnisse, die durch die Neuaufstellung
'u keinerlei Weise geändert sind und auch nicht geändert
^rden konnten, da sie innerhalb der Gestaltung einer
seden der bciden Hälften der Statue ihren Grund haben,
ibdoch nicht in der Art des Zusammentretens der beiden
^älften. Drittens die Eigenthümlichkeit der Gewandung.
^iese legt sich ganz lose um die Hüften; eine Span-
"ung tritt nur in den von dem einen Bein zum andern
Zehenden Gewandtheilen hervor, hier aber in so eigen-
ihümlicher Weise, daß die Spannung von beiden Knieen
ubdvLrts am stärksten ist, daß ferncr das linke Knie sich
^nwärts, d. h. nach rechts, das linke Unterbein aber
"nch auswärts, d. h. nach links hin beugt, wodurch
Aerade die Spannung so stark wird, daß an ein bloßes
^ewandmotiv nicht zu denken ist, vielmehr eine indivi-
buelle Absicht auf's dcutlichste sichtbar wird. Diese kann
uber nur sein, das eben von der Hüfte sinkende Gewand
'u seineni Herabgleiten zu hemmen. Nimmt man zu
biesem Umstand die keincswegs konventionellen, sondern
^urchaus individuellen Verhältnissen entspringende Art
Gewand zu halten, welche eine anderweitige Verwen-
^ung der Hände, der nächstlicgenden Gewandhalter, vor-
uussetzt, die gleichsam eine Wehr bewirkende Vorhaltung
linken Oberschenkels, das Answeichcn des Oberkör-
^'rs nach rechts, so kommt man zu dem Schluß, daß
^us Motiv der komplicirten, auf den Moment der
öu sein scheinen, die aber in dem mir allein zu Gebvte stehendcn
^atalog des Museums zu Neapel von 1842 (No 366) nicht
Uäher bezeichnet sind. Diese Analogie giebt natürlich nicht
geringstcn Bcweis, daß die melische >statue dieselben Mo-
bde gehabt habeu müßte, sondern zeigt nur, daß jene beiden
hon nrir vorgeschlagenen Motive der vorausgesetzten Situation
^u sehr natürlicher Weise entsprechen und in der That in an-
tikem Sinne gedacht sind. Jhre Rechtfertigung für die me-
üsche Venus haben sie einzig und allein in dem durch die
^tatne selbst gegebenen Zusammenhang.
höchsten Anspannung der Kraft gediehenen Haltung die
Abwehr gegen einen von links kommenden Angriff ist.
Ein solcher kann natürlich nur von einem Manne aus-
gehen und darauf gerichtet sein, die begonnene Ent-
blößung zu einer vollkommenen zu machen- Die hieran
sich schließende Frage, wer die Angegriffene und wer der
Angreifende sei, läßt sich nur durch Vermuthung lösen.
Da die Frauengestalt ohne jegliches Attribut ist, so
könneu wir nur aus ihrer Schönheit den Schluß auf
eine Göttin und zwar die Göttin der Schönheit machen,
ohne daß wir diesem Wahrscheinlichkeitsschluß irgend
eine Gewißheit zuschreiben dürften. Nehmen wir aber
Benus an, so müßte der angreifende Mann Mars sein.
Der Grund dagegen, daß in der uns überlieferten
Mythologie Mars bei Venus keinen Widerstand fand,
trifft nicht zu, da die Annahme, wir müßten in den Bild-
werken des Alterthums genau das wiederfinden, was
die zufällig erhaltenen Schriftwerke des Alterthums uns
bieten, mehrfach falsch ist: einmal könnte ein Faktum
in den verlornen Schriftwerken enthalten gewcsen sein;
sodann aber ist die Voraussetzung, daß die Bildner sich
nach den Schriftwerken gerichtet hätten oder hätten
richten müssen, logisch falsch und faktisch widerlegt: ich
wiederhole nieine Hinweisuug auf ein Liebesverhältniß
zwischen Herakles und Athene, worauf außer dem Vasen-
bild (Gerhard, Auserwählte Basenbilder, Taf. 145) auch
andere Monumente sühren (Friederichs, Bausteme, I, S. 85
u. 549). Wem aber die Annahme einer Zurückweisung
des Mars durch Venus zu kühn dünkt, trotzdem es neben
der Pandemos die Urania gab, der begnüge sich mit der
Erkenntniß, daß eine hoheiterfüllte Frau den Angriff
eines Mannes durch die Bewegung ihres Körpers und
die imponirende Macht des im Gesichtsausdruck hervor-
tretenden sittlichen Willens abwehrt. Daher der von
mir gewählte Titel meines Buches: Die hohe Frau
von Milo — da ihr die Hoheit vermuthlich Niemand
abstreiten würde, während in der Bezeichnung der be-
stimmten Persönlichkeit eine bescheidene Zurückhaltung
am Platze wäre — was freilich einen Kritiker nicht ab-
gehalten hat, diese bescheidene Zurückhaltung zu verkennen
und den Titel „seltsam, um nicht zu sagen prätentiös"
zu finden!
Nun geben uns aber die Fundberichte die bestimmte
Aussage, daß Fragmente eines Armes mit einer einen
Apfel haltenden Hand gefunden worden seien. Dies
legt die Wahrscheinlichkeit, aber durchaus nicht die Ge-
wißheit nahe, daß diese Fragmente einmal zur Statue
gehört haben; noch viel weniger aber gewährt dies Faktum
eine Berechtigung, selbst bei Annahme dieser Wahr-
scheinlichkeit, weiter zu schließen, daß das Motiv bes
Apfelhaltens das Originalmotiv gewesen sei. Wir halten
vielmehr die ästhetischen Gründe, welche ein dramatisches
Motiv solcher Stärke verlangen, daß es die vorliegende
Die Venus von Milo.
342
biduums und selbst als Jndividuum betrachten, um sie
^ sich sclbst zu erklären. Zu diesem Zweck ist es
^thwendig, die Darstellungsweise festzustellen, welche
in ihr entgegentritt. Die anatomische Untersuchung
^ist nach, daß wir die dramatische Darstellungsweise
uns haben, nicht die typische, d. h. daß dcr Körper
einem Moment dargestellt ist, der nur als Ueber-
Tangsmoment im Verlauf einer Handlung denkbar ist,
"lcht aber in einer Haltung, welche in uns das Bewußt-
stin der Zeit und eines historischen Geschehens gar nicht
^achrnft, sondern ein derartiges ruhiges Verhalten auf-
^igt, welches uns nur den dauernden, sich gleichbleibenden
^esammtcharakter fühlbar macht. Sodann ist die Eigen-
^ümlichkeit der Körperhaltung zu untersuchen. Diese
^igt ein Vortreten der linken Seite am Unterkörper
ein gleichzeitiges Zurückweichen derselben linken
^eite am Oberkörper, ferner eine Erhöhung der linken
^chulter und Senken und Borwärtsbeugen der rechten
^chulter — Verhältnisse, die durch die Neuaufstellung
'u keinerlei Weise geändert sind und auch nicht geändert
^rden konnten, da sie innerhalb der Gestaltung einer
seden der bciden Hälften der Statue ihren Grund haben,
ibdoch nicht in der Art des Zusammentretens der beiden
^älften. Drittens die Eigenthümlichkeit der Gewandung.
^iese legt sich ganz lose um die Hüften; eine Span-
"ung tritt nur in den von dem einen Bein zum andern
Zehenden Gewandtheilen hervor, hier aber in so eigen-
ihümlicher Weise, daß die Spannung von beiden Knieen
ubdvLrts am stärksten ist, daß ferncr das linke Knie sich
^nwärts, d. h. nach rechts, das linke Unterbein aber
"nch auswärts, d. h. nach links hin beugt, wodurch
Aerade die Spannung so stark wird, daß an ein bloßes
^ewandmotiv nicht zu denken ist, vielmehr eine indivi-
buelle Absicht auf's dcutlichste sichtbar wird. Diese kann
uber nur sein, das eben von der Hüfte sinkende Gewand
'u seineni Herabgleiten zu hemmen. Nimmt man zu
biesem Umstand die keincswegs konventionellen, sondern
^urchaus individuellen Verhältnissen entspringende Art
Gewand zu halten, welche eine anderweitige Verwen-
^ung der Hände, der nächstlicgenden Gewandhalter, vor-
uussetzt, die gleichsam eine Wehr bewirkende Vorhaltung
linken Oberschenkels, das Answeichcn des Oberkör-
^'rs nach rechts, so kommt man zu dem Schluß, daß
^us Motiv der komplicirten, auf den Moment der
öu sein scheinen, die aber in dem mir allein zu Gebvte stehendcn
^atalog des Museums zu Neapel von 1842 (No 366) nicht
Uäher bezeichnet sind. Diese Analogie giebt natürlich nicht
geringstcn Bcweis, daß die melische >statue dieselben Mo-
bde gehabt habeu müßte, sondern zeigt nur, daß jene beiden
hon nrir vorgeschlagenen Motive der vorausgesetzten Situation
^u sehr natürlicher Weise entsprechen und in der That in an-
tikem Sinne gedacht sind. Jhre Rechtfertigung für die me-
üsche Venus haben sie einzig und allein in dem durch die
^tatne selbst gegebenen Zusammenhang.
höchsten Anspannung der Kraft gediehenen Haltung die
Abwehr gegen einen von links kommenden Angriff ist.
Ein solcher kann natürlich nur von einem Manne aus-
gehen und darauf gerichtet sein, die begonnene Ent-
blößung zu einer vollkommenen zu machen- Die hieran
sich schließende Frage, wer die Angegriffene und wer der
Angreifende sei, läßt sich nur durch Vermuthung lösen.
Da die Frauengestalt ohne jegliches Attribut ist, so
könneu wir nur aus ihrer Schönheit den Schluß auf
eine Göttin und zwar die Göttin der Schönheit machen,
ohne daß wir diesem Wahrscheinlichkeitsschluß irgend
eine Gewißheit zuschreiben dürften. Nehmen wir aber
Benus an, so müßte der angreifende Mann Mars sein.
Der Grund dagegen, daß in der uns überlieferten
Mythologie Mars bei Venus keinen Widerstand fand,
trifft nicht zu, da die Annahme, wir müßten in den Bild-
werken des Alterthums genau das wiederfinden, was
die zufällig erhaltenen Schriftwerke des Alterthums uns
bieten, mehrfach falsch ist: einmal könnte ein Faktum
in den verlornen Schriftwerken enthalten gewcsen sein;
sodann aber ist die Voraussetzung, daß die Bildner sich
nach den Schriftwerken gerichtet hätten oder hätten
richten müssen, logisch falsch und faktisch widerlegt: ich
wiederhole nieine Hinweisuug auf ein Liebesverhältniß
zwischen Herakles und Athene, worauf außer dem Vasen-
bild (Gerhard, Auserwählte Basenbilder, Taf. 145) auch
andere Monumente sühren (Friederichs, Bausteme, I, S. 85
u. 549). Wem aber die Annahme einer Zurückweisung
des Mars durch Venus zu kühn dünkt, trotzdem es neben
der Pandemos die Urania gab, der begnüge sich mit der
Erkenntniß, daß eine hoheiterfüllte Frau den Angriff
eines Mannes durch die Bewegung ihres Körpers und
die imponirende Macht des im Gesichtsausdruck hervor-
tretenden sittlichen Willens abwehrt. Daher der von
mir gewählte Titel meines Buches: Die hohe Frau
von Milo — da ihr die Hoheit vermuthlich Niemand
abstreiten würde, während in der Bezeichnung der be-
stimmten Persönlichkeit eine bescheidene Zurückhaltung
am Platze wäre — was freilich einen Kritiker nicht ab-
gehalten hat, diese bescheidene Zurückhaltung zu verkennen
und den Titel „seltsam, um nicht zu sagen prätentiös"
zu finden!
Nun geben uns aber die Fundberichte die bestimmte
Aussage, daß Fragmente eines Armes mit einer einen
Apfel haltenden Hand gefunden worden seien. Dies
legt die Wahrscheinlichkeit, aber durchaus nicht die Ge-
wißheit nahe, daß diese Fragmente einmal zur Statue
gehört haben; noch viel weniger aber gewährt dies Faktum
eine Berechtigung, selbst bei Annahme dieser Wahr-
scheinlichkeit, weiter zu schließen, daß das Motiv bes
Apfelhaltens das Originalmotiv gewesen sei. Wir halten
vielmehr die ästhetischen Gründe, welche ein dramatisches
Motiv solcher Stärke verlangen, daß es die vorliegende