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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0039

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aber schwacher Naturen nicht nur zn schildern, sondern so zu schildern, daß
mir meist den Eindruck erhalten, als fünde sich hier das Bild der Welt
nnd des Lebens. Aus spezifisch russischen Zuständen allein läßt sich
das meines Erachtens doch wohl nicht erklären; denn die könnten im
wesentlichen nur die Stoffwahl rechtfertigen, keineswegs aber die Eigen-
tümlichkeit der Auffassung. Andrerseits steht dieser wesentliche Zug seiner
Dichtung allerdings in engster Verbindung mit einem Zuge der russischen
Volksseele selber: auch hier so ost die kraftlose Ergebenheit, die keinen
selbstschöpferischen Willen in sich verspürt; auch hier jenes bereitwillige
Zugeben der eignen Schwächen, Sünden, des selbstverschuldeten Elends, ja
das schmerzliche Schwelgen in dieser Erkenntnis; und auch hier die fein-
fühlig bewegte Klage und Anklage gegen diese „seltsame" Welteinrichtung,
die im russischen Spleen, in der Chandrü, schließlich schluchzend die ganze
Welt überströmt. Nur daß sich in der russischen Volksseele, gottlob, denn
auch noch andre Eigenschaften rühren. Dort wohnt auch die zähe Aus-
dauer des russischen Bauern, der bei Wasser und Brot heiter genügsam
sumpfiges und steiniges Land ackert. Dort lebt der Opfermut, der unno s8s2
mit Moskau sein Heiligstes den Flammen gab, und der auch noch aus
dem kurzsichtig-blutigen Wahne des Nihilisten leuchtet und aus Tolstois freilich
enger Moral mit Feuerzungen predigt. Und eben dort steht auch selsenfest
noch der lebenskräftige Glaube an sich und die Zukunft, der Glaube an die
große Völkeraufgabe Rußlands, der selbst in den Schriften eines so ganz
in religiös-psychologische Probleme vertieften Mannes wie Dostojewski in
seiner Art leidenschaftlich hervortritt. Nun findet sich wohl auch von all
diesem etwas, bald stärker, bald schwächer, bei Tschechoff, der entscheidende
Eindruck im großen und ganzen ist für mich aber doch: auch wenn er
der tätigen und hoffenden Sehnsucht das Wort redet, bleibt er im Wesent-
lichen der Dichter der weichen, der gebrochenen oder angebrochenen Naturen,
deren subjektives Elend er so gern in eine Anklage gegen das Leben an sich
verwandelt.

Jnnerhalb dieser Grenzen beschenkt er uns dann aber auch aufs reichste.
Den Deutschen im allgemeinen allerdings wiegt ja Tschechoff bis jetzt noch
nicht zu schwer. Weiten Kreisen ist er wohl überhaupt mehr von seiner
„Simplizissimusseite" her als Gesellschaftssatiriker oder gar nur als Spaß-
macher aus allerhand Zeitungsskizzen bekannt. Andre wieder schätzen ihn
mehr nach dem Stofflichen hin als trefflichen Schilderer russischer Zustände,
namentlich der Kleinstädte in ihrer verlotterten, geisterstickenden Oedigkeit. Er
ist aber unendlich mehr, er ist auf seinem Gebiete durchaus ein Dichter, d. h.
ein Mann von einer ungewöhnlichen Feinfühligkeit, die vom derbsten über den
zartesten Humor bis in die Abgründe des Grames reicht, und ein Künstler
von einer noch ungewöhnlicheren Kraft der Anschauung. Er weiß mit einer
solchen lebendig-ergreifenden Eindringlichkeit die Menschen und Zustände selber
zu uns sprechen zu lassen, daß einen davor die Frage nach der persönlichen
Originalität des Dichters ganz sonderbar anmutet. Für eines der schönsten
dichterischen Stücke dieser Art halte ich die „Geigs Rothschilds", die als
letztes in den „Losen Blättern" folgt. Jch wenigstens wüßte nicht, wie das
Elend eines törichten, eigensüchtigen und doch liebefähigen Herzens lebens-
kräftiger, drolliger und erschütternder zugleich zum Ausdruck gebracht werden
könnte, als in der Gestalt des saugroben Sargmachers und Geigers, der
über dem ärgerlichen Berechnen imaginärer Verluste und seinem mißmutig

2p Runstwart s8. Fahrg. Lseft f
 
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