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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1904)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0040

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egoistischen Grandeln Liebe und Leben verspielt. Das „Weißschädelchen"
wieder, unser zweites Stück, zeigt den Dichter von einer Seite, von
der man ihm bis jetzt vielleicht am wenigsten beigekommen ist: wie
er da liebevoll vertiest und realistisch treu bis ins Kleinste einem Tier-
leben nachgeht, bis daraus im Zusammenspielen des Köterchens mit den
Wolfsjungen ungesucht und unbefangen ein Bild urewiger, kindlicher Natur--
unschuld quillt, das zeugt für mein Gefühl von einer ergreifend reinen
und innigen Freude am Erschaffnen: die kann nur ein Mann empsinden,
der bei allen schwächlichen Pessimismen und satirischen Schärfen „das Kind
in sich" zu bewahren gewußt hat. „Das Lesen" endlich zeigt Tschechoff
als künstlerisch gestaltenden Satiriker auf der Höhe. Mit unerschütterlichem
Ernste erzählt der Schalk von den furchtbaren Folgen, die des Amtsvorstandes
unvernünftige Zumutung, Bücher zu lesen, unter seinen Schreibern hervor-
ruft. Wie aber der „gebildete" Amtsvorsteher seine entsetzten Untergebenen
zwecks ihrer höheren Erziehung mit Dumas' „Monte Christo" und dergleichen
vergewaltigen will, spiegelt das nicht lctzten Grundes satirisch symbolisch aufs
schärfste und bei aller unwiderstehlichen Komik betrübsam einen tiefen, schwer
überbrückbaren, verhängnisvollen Gegensatz? Der trennt eine vielseitig, aber
flüchtig-europäisch ausgebildete Oberschicht in Rußland von der gewaltigen
Masse der in ganz ursprünglich volkstümlichen Vorstellungen und Vorurteilen
lebenden Nation. Wie selten ist dort gegenüber solchen hochmütigen und
lächerlichen Aufklärungsversuchen der „Zivilisation", aber auch gegenüber
den ungeduldig abstrakten und redseligen Freiheitsbestrebungen einer un-
klaren Jugend und eines ewig unreifen Alters die schweigsam werktätige
Liebe, die mühevolle Arbeit der echten Kulturträger: jener, die jeden aus
sich heraus zu bilden, die jeden auf seinem eignen Gebiete zur Freiheit erst
dadurch fähig zu machen suchen, daß sie ihn seine Hände richtig ge-
brauchen lehren! Und wie selten gar erst die Arbeit jener stillsten und
tiefsten, die's wissen, daß kein Erziehenwollen nach außen hin so tief greift
wie, durchs tätige Beispiel, das Vervollkommnen der eignen Persönlich-
keit und Sache. Kann man es da dem „dummen" Volke verdenken, wenn
sich sein Jnstinkt oft in grotesker Weise gegen die Aufklärungsfrüchte solcher
„Moutechristo-Bildung" empört, die in der Tat nicht selten hauptsächlich
darin bestehn, daß der Junge die Muttcr ins Gesicht eine Gans heißen
lernt? Und wenn des Volkes Mißtrauen dann darüber hinaus entsetzt gegen
alle Ausklärung und Bildung an sich sich richtet?

Zu der Uebersetzung selber habe ich nur zu bemerken, daß ich mich
möglichst wortgetreu aus Original zu halten gesucht habe, wenn's nicht
im tiefereu Jnteresse des Sinnes lag, anders zu handeln; denn da es
unter den Völkern nicht anders ist wie zwischen den Einzelnen, daß nümlich
dem einen „sin Uhl", dem andern „sin Nachtigall" ist, so habe ich eben
auch in solchen Fällen unbekümmert für die russische Uhl die deutsche Nachtigall
oder umgekehrt setzen müssen, um die gleichen Empfindungen hervor-
zurufen. Mit besondrer Freude aber habe ich, wenn mir die Ausdrucks-
fähigkeit des Schrifthochdeutschen gegenüber dem Originale versagte, nach
Wendungeu in die Tiefen der Volksmundarten gespäht; denn wenn diese
Naturquellen eines Tages aufhören wollten, unsre Schriftsprache mit immer
neuem Leben zu speisen, müßte sie nicht in Unfruchtbarkeit erstarren oder
gar, wovor uns Gott behüten wolle, in einen Gelehrten- und Schriftsteller-
jargon ausarten?

s. Gktcberheft 25
 
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