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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1904)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Unsittliche Literatur: einige Gedanken zu dem Kongresse in Köln
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0080

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mit Millionen Saugarrnen das deutsche Volk an Hirn und Mark ge-
schwächt, und ungestört saugt er weiter Blut. Es gibt über die Häuser
der Unzucht bis zum Mädchenhandel hin keine Einrichtung in unserer
Zivilisation, die gemeiner wäre als er. Jhm ist nichts wertvoll als
das Geld; um Geld bis zu einer sür das Gebotene unsinnigen Menge
tropfenweise abzuzapsen, kennt er keine Bedenken irgend einer Art
von Sittlichkeit. Er sragt nur: wie spanne ich die weitest verbreiteten,
also die tierischen Triebe am sestesten vor meinen Wagen? So, doppelt
gemein noch, weil es sich tugendfarben schminkt, sieht das literarische
Gebilde aus, das, immer auf der Lauer nach Zeitereignissen, Zeit-
gesühlen, Zeitkrankheiten, für Millionen, für den breiten Untergrund
der deutschen Kultur fast das einzige „schöngeistige" Genußmittel ist.

Um unsern Lesern wieder einmal eine Vorstellung von diesem
Schmutz zu geben, bringen wir in der heutigen Rundschau eine kurze
Beleuchtung seines neuesten Produkts. Wir haben Aehnliches ja schon oft
getan, was haben wir damit erreicht? den Spott der Leute, die über alles
erhaben sind, was sie nicht selber gefährdet, den Grimm um ihr Geschäft
besorgter Kolportagebuchhündler und die stolze Erklürung einiger So-
zialdemokraten: dergleichen dürfe man nicht durch „Unterdrückung",
sondern nur durch Volksbildung bekämpsen. Dieses letztere aber sagten
doch nur Einige, ja nur Vereinzelte; auch unter den Sozialdemokraten
haben viele den Sachverhalt eingesehen: daß nämlich die Hauptgefahr
dieser Literatur darin besteht, daß sie für die von ihr Verseuchten
gerade die empfohlene Bildung unmöglich macht. Wer dem „Grasen
Franz von Sade, dem Frauenräuber" verfallen ist, der kann sich aller-
höchstens noch bis zu Marlitt und Eschstruth erheben, denn er ist dem
entstofflichenden Lesen auf den seelischen Gehalt hin mit Ersolg ab-
gewendet worden und hat so die Vorbedingung sür literarisches Ge-
nießen verloren. Jst die Sozialdemokratie wirklich eine „Bildungs-
partei", so ist sie unsere natürliche Verbündete gegen den Schund-
roman. Und auch als Bekämpferin des Kapitalismus ist sie's, denn,
wenn irgendwo eine widerlich ausbeuterische Erscheinung des Kapita-
lismus vorliegt, so hier. Uebrigens wollen wir nicht vergessen, daß die
Sozialdemokratie trotz der Vorbehalte einzelner ihrer Vertreter tat-
sächlich gegen den Schundroman schon viel versucht und auch geleistet
hat. Freilich, der Baum blüht trotzdem weiter.

Jch habe den Schundroman in unserer Betrachtung vorangestellt,
weil ich ihn für die gesährlichste Form der literarischen Gemeinheit
halte. Aber ich halte ihn auch für die „reinste" — wie dick er mit
all seinem „tatsächlich" und „wirklich geschehen" und „endlich enthüllt"
sein Publikum belügt, schon die allerbescheidenste Bildung reicht aus,
um diesen Schwindel zu durchschauen. Darf trotzdem natürlich sogar
bei ihm nur von Fall zu Fall geurteilt werden, so werden die Fragen
bei einem andern Gebiete, das hier in Frage kommt, noch verwickelter.
Jch meine die Witzblätter. Daß auch manchen von ihnen das
Narrenrecht nur Vorwand ist, um auf Lüsternheit geschäftsmäßig zu
spekulieren, bestreitet niemand. Nur ist es zweierlei: ob einer auf
Lüsternheit geschäftsmäßig spekuliert, oder: ob er lüstern schreibt und
zeichnet, einfach weil's ihm natürlich ist, weil er lüstern ist, und die
Entscheidung liegt nicht immer slach aus der Hand. Mit der Lüstern-

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