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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1904)
DOI article:
Avenarius, Ferdinand: Unsittliche Literatur: einige Gedanken zu dem Kongresse in Köln
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0081

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heit aus Naturanlage können sich bessere Eigenschaften mischen, und
je nachdem, was vorherrscht, wird unser Urteil immerhin milder oder
strenger sein. Aber auch je nach unserer eigenen Reizbarkeit für diese
Gefühle. Wenn dem Reinen alles rein und dem Unreinen alles unrein
ist, so gibt es ja bei tausend Beurteilungen auch tausend Zwischenstufen,
Abwandlungen und Mischungen des Urteils vor ein und demselben
Gegenstand. Man kennt ja auch unsittliche Wirkungen durch „Miß-
verständnis", durch Nichterfassen des Jnnerlichen im Gegebenen, durch
Steckenbleiben in der Obersläche. Gibt es doch Menschen, die selbst
die Sixtinische Madonna gelüstig stimmt. Die Grenze zu sinden, wo
der Grund nicht mehr beim Verfasser, sondern beim Leser liegt, ist
halt nicht so einfach, wie der Einzelne, wenn er nur s i ch befragt,
glaubt.

Und ebenso gemischt liegen Lie Erscheinungen bei der dritten
großen Gruppe, die sich absondern läßt, bei der pseudo-wissen-
schaftlichen Literatur, ob sie nun in ästhetischem oder kulturwissen-
schaftlichem oder medizinischem Mäntelchen komme. Es gibt keine ein
für allemal zu beschreibenden und festzulegenden Merkmale, die aus-
nahmslos als unsittlich kennzeichneten. Wenn Bücher über die Rassen-
schönheit des Weibes in zahlreichen Auflagen verbreitet, wenn Aretinos
Gespräche glänzend subskribiert, wenn Krafft-Ebings „LszmdoMtüia
86xua1i8" oder gar ein Buch über den Marquis de Sade in großen
Massen verkaust wird, so ist kaum mehr zweifelhaft, ob das aus
wissenschaftlichem Jnteresse geschieht oder aus anderm. Ob aber das
betreffende Werk zur „unsittlichen Literatur" zu zählen sei, wird sich
trotzdem nur von Fall zu Fall feststellen lassen, ja, es wird sür manche
Fälle ein Feststellen hier überhaupt nicht geben.

Und da liegt die Schwierigkeit, die man in den Kreisen am
meisten zu unterschätzen pslegt, die zum Kölnischen Kongresse die Haupt-
zahl der Besucher stellen. Jch möchte an die Vorgänge bei den Lex
Heinze-Beratungen erinnern, um heute, wie damals, vor einem Ueber-
spannen des Bogens zu warnen. Es hat schon einmal zum Zerbrechen
geführt. Als jene „Kunstparagraphen" im Reichstage zur Debatte
standen, gab's einen Antrag: sie sollten nicht angewendet werden,
„wo ein höheres Jnteresse der Kunst oder Wissenschaft vorliegt". Nicht
einmal ein gewöhnliches, nur ein höheres Jnteresse — und doch,
der Antrag wurde glatt abgelehnt. Selbst Männer, wie der greise
Hohenzollernverherrlicher Menzel, schon damals Ritter vom Schwarzen
Adler, sprachen sich in der schärfsten Weise gegen die Paragraphen aus,
selbst Hoftheaterintendanten und Direktoren königlicher Museen traten
össentlich mit aller Entschiedenheit gegen die Paragraphen als gegen
schwere Gefährder auch ihrer Arbeit auf. Aber man hielt an den unglück-
seligen Entwürfen fest. So ward gezwungen zur Opposition, wer nur
irgendwie mit Kunst zu tun hatte, ja, der Sache wegen gezwungen, zur
Bundesgenossenschaft mit ihm unsympathischen und selbst mit unlauteren
Elementen. Wie konnte denn einer, der die Fragen verstand, sich sür
Bestimmungen gewinnen lassen, die das Schamgesühl des Schutzmanns
für maßgeblich genug erachteten? Von dem Mitsprechen von Sachver-
ständigen wollte man überhaupt nichts hören. Otto von Leixner, der
doch sicher nicht zu den Revolutionären gehört, Leixner, der jetzt mit



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