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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1904)
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Göhler, Georg: Unser Bühnentanz
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0091

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unerläßliche Vorbedingung ist. Die reichen Ausdrucksformen der >
Tünze aber — es sind elegische, tragische, naive, burleske, selbst rezi- !
tativische Abschnitte in dieser Musik — böten Aufgaben, an die sich !
ein im Sinne Jsadora Duncans geschultes Ensemble wagen mnßte,
um einmal zu zeigen, welch' einen Genuß künstlerisch genau mit >der
Musik zusammengestimmte Bewegungen bieten können, wie der ganze
Körper in der Stimmung eines Musikstückes sprechen kann. Welches
Linien- und Formenspiel, welcher Reichtum bewegter, lebendiger Schön-
heit könnte da geschaut werden!

Diese alte Kunst ist bis aus weiteres als das wichtigste Material
anzusehen, das bei einer Regeneration des Ballettwesens in Betracht
kommen könnte. Denn in der Oper des l9- Jahrhunderts ist, abge-
sehen von nationalen Tänzen, der Wert der Ballettmusiken natürlich
insolge des Niedergangs der Tanzkunst gesunken. Haben aber deshalb
die Leiter unserer großen Bühnen das Recht, das Ballettwesen aus
dem jetzigen Niveau zu lassen? Wo sind die grvßen Hoftheater, die
den Mut finden, zunächst einmal mit Jnszenierung von Gluckschen
Balletts aus die alte Kunst des Bühnentanzes zurückzugreisen und
damit gleichzeitig den Forderungen gerecht zu werden, die Jsadora
Duncan an den Tanz der Zukunft stellt? Jch kenne die Künstleriw
nicht persönlich, weiß also nicht, ob sie daraus eingehen würde, wenn
ihr die Jntendanz eines großen Hoftheaters die Möglichkeit gäbe,
Glucksche Balletts oder unbekannte Kunstwerke wie etwa die Balletts
aus Liramo s lisdö von Hasse zu reiner künstlerischer Wirkung zu bringen.
Vorläufig aber könnten die verantwortlichen Leiter der Bühnen, die
einen großen Ballett-Apparat haben, wenigstens die sinnlosesten Aus-
wüchse des jetzigen Tanzunwesens auf der Bühne beseitigen, könnten
— ich gebe zu, daß das sehr viel Jdealismus voraussetzt — versuchen,
dem Ballett künstlerische Ausgaben zu stellen, und könnten dabei gleich-
zeitig eine Kulturfrage beantworten, die mit dem Auftreten Jsadora
Duncans in Bayreuth von neuem in den Gesichtskreis gerückt ist.

Diese lautet: Jst es möglich, dem künstlerisch gebildeten Menschen
wieder die rein ästhetische Freude am menschlichen Körper zu ver-
schasfen?

Ein eigentümliches Merkmal der Kulturbestrebungen der Gegen-
wart isü unzweifelhast das von der modernen Naturwissenschast wie
von der vertiesten Kunstauffassung in gleichem Maße unterstützte Ver-
langen, alles Lebendige in Beziehung zum Einzel-Jndividuum zu setzen,
es ihm nahe zu bringen, nicht um es wirtschastlich auszunützen oder
ästhetisierend zu genießen, sondern um das eigene Leben zu bereichern
und zu steigern. Das Verhältnis zur Natur, zu Gestein, Pflanze und !
Tier verändert sich auf diese Weise. An Stelle von Gleichgültigkeit
oder schulmäßiger Nüchternheit tritt lebendiges Hineinfühlen in die
Lebensäußerungen alles Organischen, ja selbst des Unorganischen.
Jch möchte sagen: das alte Grundgesetz aller Kunst, aus das Wagner
wieder hingewiesen hat, daß alles in ihr Ausdruck und Sprache sei,
wird nun auch auf die Aeußerungen der Natur angewandt. Sie ist
nicht mehr totes Objekt, das man katalogisiert. Jm zoologischen Gar-
ten sieht man nicht mehr ein Kabinett von Raritäten, von Tieren,
deren Namen man kennt, sondern eine unerschöpsliche Anregung für

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