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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI issue:
Heft 3 (1. Novemberheft 1904)
DOI article:
Avenarius, Ferdinand: Nur eine Fachfrage oder mehr?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0149

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Dom- und Palazzoformen im Gedächtnis tritt der Baugewerkmeister
vor Bürger- und Bauernhäuser, Scheunen nnd Ställe! Mit antiken
und mit Renaissance-Metren und Phrasen im Kopf vor die schlichte,
gesunde Alltagsprosa des Lebens!

Und, wir wiederholen es, diese Formenlehre ist der einzige
Unterricht auf der Baugewerkschule, üer mit Kunst etwas zu tun
hat, das bißchen Freihandzeichnen in dem ersten Jahr abgerechnet,
das zudem großenteils auch nnr ein Kopieren von Ornamenten und
anderen Vorlagen ist. So sührt der gute technische Unterricht in der
Praxis zu einem Ergebnis, das man mit einem trockenen und einem
nassen Auge besieht: der Baugewerkschüler lernt, Greulichkeiten so
dauerhast wie nur möglich zu bauen. Denn was kann, außer durch
Zufall, sonst geraten, wo man künstlerische Ausgaben wissenschastlich
zu lösen versucht?

Nachbarlich an den Grenzen der Baugewerkschüle liegen die
Schulen sürs Kunstgewerbe. Es mnß eine hohe Mauer zwischen beiden
sein, denn während dort die Luft stockt, weht hier srischer Wind schon
mehr als stoßweis. Jn unsern Kunstgewerbeschulen ging's früher auch
nicht viel besser her, und in! manchen greiset vielleicht der alte
Schlendrian heute noch. Die bessern sind schon fröhlich verjüngt. Jn
den bessern sorgt eine gründliche Veränderung des Bildungsganges
schon heute dasür, daß mehr und mehrere lernen, nicht nur Tiraden
zu machen, sondern etwas zu sagen. Neben wissenschaftlichem nnd
technischem Unterricht erhält hier der Schüler jene allgemeine
Vorbildung, die zu allen Jahrhunderten die Grundlage künstlerischen
Arbeitens gewesen ist. Vor allem, er zeichnet sleißig, aber nicht,
indem er Ornamente kopiert, sondern indem er sich geraume Zeit
mit Tier, Pslanze, Landschaft und Binnenraum auseinandersetzt,
ohne nach der praktischen Anwendung zu schielen. Das heißt: er
lernt vor allem einmal sehen. Mit der Farbe lernt er gleichsalls
umzugehn. Er modelliert anch. Für Umriß, Farbe und Form wird
sein Gefühl entwickelt, nicht nur zu „Anwendungen" die man
„vielleicht mal brauchen kann", sondern zunächft nur um seines
Kunstgesühls selber willen, nur um dieses krästig und selbständig zu
machen. Mit dem so erzogenen Gesicht und Gefühl kommt er dann
an die Aufgaben, beispielsweise einen Schrank zu machen, aber nicht
einen Schrank in Renaissance oder Gotik oder Empire, sondern ein-
sach einen guten Schrank aus dem und jenem Holz sür den oder jenen
Bedarsszweck und den oder jenen Raum. So werden dem künstle-
rischen Verstehen der Deutschen von morgen Männer erzogen, wie
es sie braucht, diesem Verstehen, das langsam von Kristallisations-
punkten aus sich nun ausbreitet.

Wann folgen endlich die Bauschulen den kunstgewerblichen? Jetzt
ist es so, daß sie die ästhetische Bildung nicht nur nicht fördern, nein,
daß sie das natürliche ästhetische Gefühl gerade durch ihren „Kunst-
Unterricht" verwirren. Was von innen heraus gestaltet werden sollte,
wird in trockenster Nüchternheit gemacht und bekommt dann mit all
den Kenntnischen der Formenlehre die „Kunst" von draußen her
umgeklebt. Gerade so gut wie die Kunstgewerbeschulen könnten die
Baugewerkschulen eine allgemeine ästhetische Erziehung zur Grund-

^24 Runstwart XVIII, LstÜ 2
 
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