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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1904)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Nur eine Fachfrage oder mehr?
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0150

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lage des künstlerischen Teils ihrer Äufgaben machen. Vielleicht könnten
sie sich die ganze „Formenlehre" schenken. Praktische Stillehre ist
ein ander Ding, ist Unterricht nnd Uebung darin, wie ein Material
seinem Wesen nach zur üsthetischen Erscheinung entwickelt wird, und
darüber, wie man's gegen sein Wesen vergewaltigen kann. Wir
brauchen auch bei Kleinbanten Eisen, wir kommen nicht einmal ohne
Dachpappe aus, wir müssen sogar mit Zementsteinen rechnen — es
gibt aber kein brauchbares Material, das nicht besser oder schlechter,
das nicht ehrlich oder schwindelhast gebraucht Werden könnte. Will
man aber „Formenlehre" treiben, so gehen den künstigen Erbauer
von Wohnstätten deutscher Bürger und Landleute von heutzutage doch
wohl mehr als die Architekturmonumente von Hellas und Rom erstens
die heimischen Ueberlieferungen an und zweitens die besten modernen
Lösungen neuer Aufgaben mit neuen Techniken und Materialen. Die
Hauptaufgabe bleibt immer die Stärkung des Kunstgefühls. Das ist
ein natürliches Gefühl, man kann sich darauf verlassen, daß es
bei weitem in den meisten tief innen steckt, denn es hat jahrhunderte-
lang das Bauen in allen deutschen Landen regiert.

Es gibt einen alten Maurerspruch: Baumeister ist, der was weiß,
Maurer, der was kann, aber der Polier, das ist der Hauptkerl, der
was weiß und was kann. Süst an diesem Sprüchel was dran, und
wir hüten uns wohl, den guten Maurer- oder Zimmermanns-Polier
nicht geziemendermaßen hoch zu schätzen. Aber vier unter füns neuen
Bauten errichtet der ehemalige Baugewerkschüler heutzutage nicht als
Polier, sondern als Architekt. Ganze Straßen, ganze Bororte, ganzeZ
Stadtviertel hat allein der ehemalige Baugewerkschüler gebaut. Das
„gewerk" aus seinem Titel verliert er schon auf der Anstaltsschwelle,-
als „Baumeister", „Architekt" oder „Bauunternehmer" „etabliert" er
sich in Städtchen und Staht sür sie selber und fürs umliegende Land.
Das schöne Alte, das dort sein mag, ist ihm nur Gerümpel, er hat
allein von dorischen und korynthischen und römischen oder florentini-
schen „Formen" gehört, und wenn seine Bauschule dicht bei Hildes-
heims und Goslars Fachwerkherrlichkeiten oder mitteninne zwischen
Dörfern mit der edelsten alten Baukultur lag. Ebensowenig wie vom
guten Alten hat er eine Ahnung vom guten Neuen. Farbe, Linie,
Fläche, Masse, Form, er fühlt von alledem nichts. Er steht jeder
neuen Technik gegenüber ohne die mindeste üsthetische Kritik. Er hat
nicht den geringsten Widerwillen gegen „Jmitation" oder „Mas-
kierung" oder irgend ein anderes Baugeflunker, wenn's nur „nach
etwas aussieht". Was schön zu gestalten überhaupt heißt, das
dämmert ihm kaum, soll er was „schön" machen, so putzt er's. Aber
er ist nicht künstlerisch roh — das wäre das größte Unglück durchaus
nicht —, sondern er ist verbildet: sein ästhetisches Gesühl ist sozusagen
verwachsen. Und nun hat er aus Musterbüchern, Vorlagewerken und
andern Eselsbrücken einen Haufen glitzernden Förmchen-Krimskrams
mitgebracht. Davon packt er vor den Bürgern und Bauern aus, und
die meinen: da man das von Obrigkeitswegen lernt, so muß es doch
mindestens fein sein.

Bauen war, solange gebaut wird: als Mnstler benutzen, was der
Techniker wußte. Den die Bauschulen erziehn, der muß Künstler und



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