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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1904)
DOI Artikel:
Grunsky, Karl: Klavier und musikalische Bildung, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0156

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Ach, wir finden fast keine Menfchen mehr, die musizierten, son-
dern nur noch den Sänger, der fingt, den Geiger, der geigt usw.
Will heißen: es kümmert fich jeder nur um die Noten, die für ihn
gewachfen zu fein fcheinen, oder von Verlegern, die ihre Leute kennen,
fröhlich gepflanzt werden. Ein Tenorist beispielsweise kommt schwerlich
je in seinem Leben dazu, ein Lied für Baß gründlich kennen zu lernen.
Der Zufall entscheidet, was er anderes hört, und auch diefem greift
er vor, indem er nur Kollegen vom Tenorfache lauscht. So rennt
der Pianist aus dem Konzert davon, wenn die neunte Symphonie be-
ginnen foll, der Violinspieler nimmt seinen Ueberzieher, um einer
Orgelfuge Bachs zu entgehen; das Gewissen sagt ihm eben: du kennst
keinen Baßschlüssel, noch viel weniger liest du drei Shsteme zusammen!
Und wenn je einer im Laden des Musikhändlers als bekannter Celliste
ein Originalstück sür Violine holen wollte, würde man sein Vorhaben
lücherlich sinden.

Der schlimmste Schädling des Musiklebens scheint mir der ein-
seitige Klavierspieler zu sein, der hinwiederum nichts versteht, als
Noten vom Violin- und Baßschlüssel zu lesen, und nichts kennt, als
das Schristtum sür sein Tonwerkzeug. Es soll damit nicht behauptet
sein, daß dieses Schrifttum engbegrenzt oder armselig sei. Jm Gegen-
teil, man weiß, wie neben der Orgel das Klavier die umsassendste
Eigenliteratur besitzt, die es dem Einsamen tausendmal gestattet, Sehn-
sucht nach wahrer Musik zu befriedigen. Violine und Cello sind trotz
Bach nicht so reich gestellt. Wir geben auch zu, daß dem Klavier ein
reizvoller, leichtslüssiger, geschmeidiger Gesamtklang Zuhörer wirbt;
die Ausbeute aller Eigenheiten ist herrlicher Genuß. Aber immer muß
wieder betont werden, was die eingeweihten Pädagogen längst fest-
gestellt haben: die Möglichkeiten des harmonischen und strengstimmigen
Spiels sind am Klavier erkauft mit einer gewissen Charakterlosigkeit
des Klanges, die den Sinn für Gesang und sür die Tonsülle der
andern Jnstrumente bedroht, sobald das Anhören oder Ausführen
anderer Tonwerke vernachlässigt wird. Man vergleiche den Glanz des
Tenors mit den entsprechenden Tönen am Klaviere, die dröhnende
Tiefe der Kontrabaßtuba mit dem gleichen oder auch tieferliegenden
Klavierbaß! Und so wenig die Klangart des Klaviers den Jnbegrifs
der Tvnkunst darstellt, so wenig begreist das eigene Schristtum für
Klavier die Welt der wahren Musik in sich. Nicht sür Klavier ge-
schrieben sind z. B. Beethovens Quartette und Symphonieen, Bachs
Kantaten, Passionen, Messen, Wagners Dramen — Werke, ohne die
sich der innerlich musikalisch Gebildete nicht denken kann! Ganz ab-
gesehen von den üielen Schätzen hohen, wenn zwar nicht höchsten
Ranges, die dem wechselnden Leben untertan sind, auf deren An-
regung jedoch keine Musikpflege verzichten mag.

Das beste wäre nun freilich, wir genössen oder übten Musik
immer nur so, wie sie vom Urheber gedacht ist; doch dagegen erhebt
die Wirklichkeit ihren mächtigen Widerspruch. Wer hat denn die Ge-
legenheiten um sich, welchen er nach Wahl seine musikalische Kost
entnehmen könnte? Selbst der Großstädter, trotz denkbar günstigster
Bedingungen, sieht sich vom öffentlichen Leben im Stich gelassen, wenn
ihm der Wunsch rege geworden ist, musikalische Bildung planvoll auf-



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