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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1904)
DOI Artikel:
Grunsky, Karl: Klavier und musikalische Bildung, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0157

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zubauen; und ob das häusliche Musizieren bei der Gespreiztheit und
Flachheit unseres geselligen Lebens Ersatz biete, ist erst recht zweifel-
haft. Es sei einmal eine Gewissensfrage an die Leser gestellt: kennt
jemand auch nur alle Symphonieen und Streichqnartette Beethovens —
um Werke von anerkannt höchstem Werte zu nennen — von Aufsüh-
rungen her? Wer wirklich bejahen kann, sollte auch überlegen, ob
ihm das volle Verständnis nur durch Konzerte erblüht sei, oder ob
nicht vielmehr das Klavier wesentlich vorbereitet und nachgeholsen
habe? Ja das Klavier! Wir kehren wohl oder übel zu ihm zurück
und sind bestrebt, ihm von einer andern Seite viel mehr zu geben,
als was wir auf der einen wegnehmen wollen. Hinweggeräumt oder
eingeschränkt werden sollte die virtnose Literatur, auch im Dasein des
Fachkünstlers, und alle gewöhnlichen Stücke zum Vorspielen, auf welche
der Unterricht in königlichen und unköniglichen Musikschulen das Haupt-
augenmerk richtet. Es ist Tatsache: Tausende von konservatorisch Ge-
bildeten lausen herum, -vhne ein Orchesterwerk Beethovens gründ-
lich zn kennen. Männer wie Kretzschmar und Riemann bezeugen,
daß dem so ist. Man verfolge doch einmal die Programme der
össentlichen Prüfungskonzerte. Die Virtuosität, die sich da breit
macht, hat verzweifelte Aehnlichkeit mit den Kunststücken, ein Schiss-
chen in eine Weinslasche zu bästeln oder eine Kreuzigung in ein
Arzneikölbchen: kein Mensch hat etwas davon, außer dem Anglotzen.
Wir dürfen, bei aller Verehrung, selbst vor Liszt in diesem Angrifs
nicht Halt machen: vieles hat er geschrieben, was nur ein Mal
Sinn hatte, da nämlich, als es galt, die Fertigkeiten des Klavier-
spielers aufs höchste zu steigern. Aber gerade Liszt war es, der zugleich
die Virtuosität ein- sür allemal als Selbstzweck vernichtete, indem er
sie anderer als klaviermäßiger Literatur dienstbar machte. Und an
dieses Ergebnis seiner Laufbahn haben wir uns zu halten! Er
stellte für zweihändige Klavierübertragung mit Beethovens und Ber-
lioz' Symphonieen, mit Bachischen Orgelwerken die Muster hin. Tau-
sigs, Bülows, Klindworths Klavierauszüge zu Wagner, dann die Be-
arbeitungen namentlich Bachs von seiten eines Busoni, Stradal, Kon-
rad Ansorge, d'Albert, oder durch Reger, um auch einen zu nennen,
der nicht persönlich von Liszt lernte, alles das sind Fortschritte auf
dem von Liszt betretenen neuen Pfad.

Nun gibt es ja Fachleute genug, teils unter den ausübenden
Musikern, teils im Lager der Gelehrten, die jede Art von Klavier-
übersetzung verpönen. Sie verweisen aus die Dutzendware schlechter
Klavierauszüge, die kaum das Drahtgerüst eines Skeletts bieten, ge-
schweige denn den Organismus, aus die geschmacklosen oder veralteten
Transkriptionen, die den ursprünglichen Aufbau preisgeben und den
Sinn sür Form und Stil zerstören, auf die Potpourris, welche das
Schöne ungesähr so übermitteln wie der rosinenklaubende Finger des
Kindes. Allein nichts von alledem streben wir an. Der Klavierauszug
der Zukunst soll philologische Pünktlichkeit und künstlerischen Klangsinn
vereinigen, und nicht mehr von Nebenarbeitern um Fabriklohn „be-
sorgt", sondern von Künstlern mit nachschöpferischer Treue ausgearbeitet
werden. Allerdings könnte man einwenden: wozu diese Mühe des
Umwegs, wo doch das Anschafsen und Durchlesen der Partitur eiu



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