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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1904)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunstwart für 1905, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0207

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auch kaum. Was einer vor allem anderu liest, soll das Beste
sein, aber er kann nicht nur das Beste lesen. Auch kann ja manches
für heute von Wert sein, was morgen gleichgültig ist. Trotzdem sollte
doch auch beim Besprechen der nenen Erscheinungen immerhin eine
Auslese und eine Ordnung sein, sollten irgendwelche Maßstäbe ange-
legt, sollten Abstände gehalten werden. Was hilst es, wenn man Groth
oder Fontane einen echten Dichter nennt, nennt man gleich darauf
Tinchen Schulze oder Nataly Eschstruth eine echte Dichterin? Oft
drängt sich der Verdacht auf: Hier hat jeder Rezensent gerade die
Bücher zur Besprechung bekommen, die gerade er erklärte, empfehlen
zu können. Ausnahmefälle gibt es auch hier, in den letzten Jahren
haben sich die meisten Weihnachtskataloge verbessert und einige davon
mit ganz ernstem Bemühen. Aber im großen ganzen hat, wer unsere
Weihnachtskataloge unbefangen durchliest, den Eindruck der Allesloberei.
Wo trügen sie zur Gruppierung, zur Sichtung bei, es sei denn
vielleicht zu einer nach Tendenz, Partei oder Klüngel?

Drittens: Machen schon die Besprechungen solchen Eindruck, so
verstärken ihn die Listen. Jn ihnen ist auch die ältere Literatur ver-
treten, aber ich frage jeden Buchhändler anfs Herz: ist sie's nach
einem andern Gesichtspnnkte, als nach dem der »Gangbarkeit«? Jch
blättre in der Liste der Erzählungen, ja freilich, da drohen auch sie
mit den vollen Breitseiten ihrer poetischen Entladungen, die Ballestrem,
die Eschstruth, die Heimbnrg usw., und zwischen ihnen sitzen all die
Männlein herum, die alljährlich ihre beliebten poetischen Strümpfe
stricken. Sagt ihr, das Publikum will das einmal, gut. Nur bitten
wir dann, keine Entrüstung zn markieren, wie damals, als wir im
Kunstwart zuerst diese Weihnachtskataloge ohne Umschleierung des Sach-
verhalts eben geschäftliche Unternehmungen nannten.

Deshalb also nahmen wir für j899 einen früheren Versuch regel-
mäßig alljährlich wieder auf, um einen eigenen Weihnachtskatalog aus-
zubilden. Wie viel Fehler er hatte, drei gute Eigenschaften mußte
er einsach als Folgen seines Planes haben: er gab, erstens, Ueber-
sichten nicht nur über die Neuheiten, sondern über Gesamtliteratur,
soweit sie in Frage kommt, er sprach, zweitens, auch von den Nen-
heiten nur mit vorsichtiger Auswahl, er stellte, drittens, Listen
auf, die den Schund, den es in unserer Literatur zu bekämpfen gilt,
und die kleinen netten Sachen, welche die Mode groß ausgeblasen hat,
nicht in all ihren Prachten weiterverluden.

Trotz aller theoretischen Erkenntnis von der Notwendigkeit solchen
Versuchs überraschte nns der Ersolg. Der Buchhandel, der sich um
die Voranzeige unseres Katalogs in den Fachblättern sehr wenig ge-
kümmert hatte, begann nach dem Erscheinen so eifrig zu bestellen,
daß unsere ganze stattliche Sonderauslage in etwa drei Wochen bereits
vollkommen vergrisfen war. Die Teilnahme im Leserkreise war im
höchsten Maße ersreulich. Und sie erlosch nicht mit der Weih-
nachtszeit. Das ganze Jahr hindurch bewiesen uns Zuschriften
das, was andere Beobachtungen bestütigten: Wir brauchen nicht nur
einen Weihnachtskatalog, wir brauchen eine kurze kritische Uebersicht
nicht nur über Geschenkbücher, sondern wir brauchen einen Berater
über die gesamte Literatur, soweit sie für den gebildeten

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