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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1904)
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Wolfsberg, V.: Sprechsaal: noch einmal: Litzmann über Goethe
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0410

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auch) dem Genuß gewrsse Schwierrgkeiten bereiteu, also eine Erkläruug
gewissermaßen herausfordern usw."

Goethe selbst hat es doch für nötrg gehalten, zur „Harzreise" erne
Auslegung zu geben, und des „Wauderers Sturmlied" hat er später, als
er nrcht mehr das vom Besonderen uicht genügend gereiuigte BekenntnrD
für ein Kunstwerk hielt, sür Halbunsrnn erklärt. Das hätte er nrcht ber
Gedrchten tun können, bei denen der Genuß nicht durch den Mangel des
positiven B e r st ä n d n r s s e s (verstandesgemäßes Erfassen des Wort- und
Satzkomplexes) behindert war. Es mußte hier, ehe von dem Genuß die
Rede sein konnte, dem Verstand die Möglrchkeit benommen werden, srch
störend in den Kunstgenuß einzudrängen. Für überflüssrg zur Förde-
rung des Kunstgeuusses der indivrduellen, gegebenen, nrcht gewählten Dich-
tung könnte also die Erklärung des Besonderen nur dann gehalten werden,
wenn man Zugäbe, daß Uuverständlichkeit nicht im Genuß behindert, oder
wenn Gesühl und Phantasie des normalen Menschen die Leistung, die dem
Verstand hier obliegt, völlig übernehmen könnte.

Jn „Wanderers Sturmlied" liegt die Einheit des Gedichts nicht im
Künstlerischen, in der Stimmnng, im Gefühlsausdruck, da sich eine Reihe
von Stimmungen und Gefühlen aneinanderreiht und der Uebergang bedingt
ist dnrch Zufälligkeiten, die sich nur aus der Besonderheit der Anregung
erklären. Die Einheit ist vielmehr bedingt in einem besonderen, zufülligen
Spaziergang dnrch Sturm und Wetter, den wir also kennen müssen, ehe
der Gennß sich uns völlig erschließt. Sonst bleibt es bei einer Reihe von
Einzelgenüssen, verbunden mit dem Unlustgefühl, das wir bei allem Un-
motivierten empfinden.

Wie steht nnn Litzmann Gedichten gegenüber, die sich (wie auch das
schon besprochene Gedicht „An den Mond") dem Kunstgenuß unvermittelt,
ohne daß Einfälle des Verstandes erst abzuwehren wären, darbieten, etwa
gegenüber einer der leuchtendsten und reinsten lyrischen Perlen, die uns
Goethe se geboten, dem „Ganymed"? Man nehme Avenarius' schon mehr-
fach angezogenen Aufsatz und lese nach, was er vom „Einstellen" sagt, und
man wird zugeben, daß Litzmanns Behandlung des Gedichts wie ein Bei-
spiel zu diesen Ausführungen erscheint!

„Nicht etwa, daß wir hier Skizzen und Entwürfe des Gedichtes zur
Hand hätten." Mit einer leichten Bewegung weist er den Gedanken an
dergleichen ab. „Nein, hier ist die Beobachtung ungleich lehrreicher dadurch,
daß wir hier wirklich bis zu den »Müttern« vordringen, zu den geheimsten
Werkstätten schöpferischer Phantasie, in denen sich die Vorgünge
vollziehen unabhängig vom Willen und vom Bewußtsein des
schaffenden Genius, nach einem geheimen Naturgesetz."

Und dann die Einstellung durch Einwirknng auf Gefühl und Phantasie
des Lesers. Könnte es vornehmer und dezenter gemacht werden, als es
Litzmann tnt, indem er Goethe selbst ans einer gleichen Stimmung heraus,
mehr dasselbe bekennend als es gestaltend, sprechen läßt? (2. Brief
Werthers.)

Und dann seine Erkenntnis vom Wesen solcher Dichtung: „Dem Poeten
in einsamer heiliger Stunde aber wird das Vergängliche zum Gleichnis,
wird das Gefühl zum Gedanken, der Gedanke zum Bild. Und auf einmal
beginnt ein mythologisches Gleichnis aus grauer Vorzeit für ihn zu neuem
Leben zu erwachen; es blüht wieder auf als Ereignis, dem er nicht bloß

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