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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 5 (1. Dezemberheft 1904)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0429

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Jn einem alten lateinischen Briefe
des Jahres etwa ll32 heißt es, wie
folgt: „Aber noch mehr widerfuhr
mir, noch Seltsameres; meine Liebe
selbst wurde zum Wahnsinn, also daß
sie selber auf das, was sie einzig
begehrte, verzichtete, ohne Hoffnung,
es je wieder zu erlangen. Dies ge-
schah damals, als ich, deinem Willen
gehorsam, zugleich mit dem Gewand
auch mein Herz zu ändern unter-
nahm, um dir zu zeigen, daß du
allein Herr meines Leibes und meiner
Seele seiest. Nichts habe ich je bei
dir gesucht — Gott weiß es — als
dich selbst; dich nur begehrt' ich, nicht
das, was dein war. Kein Ehebünd-
nis, keine Morgengabe hab' ich er-
wartet; nicht meine Lust und meinen
Willen suchte ich zu befriedigen, son-
dern den deinen, das weißt du wohl.
Mag dir der Name Gattin heiliger
und ehrbarer scheinen, mir klang es
reizender, deine Geliebte zu heißen;
oder gar — verarg' es mir nicht —
deine Buhle, deine Dirne. Je tiefer
ich mich um deinetwillen erniedrigte,
desto mehr wollte ich dadurch Gnade
vor deinen Augen finden, und um
so weniger dachte ich auf diese Weise
deinem glänzenden Rufe zu schaden."

Das ist aus einem Briefe Heloisens
an Abälard. Heloise war Abälards
Gemahlin. Aber sie wollte cs, um
nicht seine Laufbahn zu hemmen,
nur heimlich sein, vor der Oeffent-
lichkeit als seine Dirne gelten. Aus
Ehrsucht ließ er es sich gefallen.
Der Briefwechsel fällt lange dreizehn
Jahre nach der gewaltsamen Tren-
nung. Heloise ist einunddreißig, Abä-
lard dreiundfünfzig Jahre alt. Sie
schreibt aus unerloschener, sich gleich
gebliebener Liebe, Abälard aus welt-
sremder, objektiv gewordener Heilig-
keit heraus; beide so, wie sie emp-
finden. Das macht die Tragik dieses
Briefwechsels.

Des näheren trifft nichts zu. Eine
direkte Deutung verbietet sich. Tas

ist das beste. Da sind wir vor dem
Verdachte bewahrt, ein Kunstwerk erst
genießen zu können, wenn wir wissen,
was alles „bedeutet". Und es
kommt besser heraus, was unser Ge-
nuß ist: die Stimmungsgleichheit in
dem Dreien. Gr G

G „Sonderschulen für her-
vorragend Befähigte" fordert I.
Petzold in Jlberg und Gerths
„Neuen Jahrbüchern". Sein Gedan-
kengang ist der folgende.

Unfer Schulsystem ist auf die
Massen eingerichtet. Darunter leiden
nicht nur die Genies, sondern auch
schon die Talente: der Lehrer hat
nicht die Zeit, sich ihnen besonders
zu widmen. Sonderschulen für die
hervorragend Befähigten sind also
wünschenswert. Sie sind pädagogisch
und finanziell möglich und im na-
tionalen, wirtschaftlichen und geisti-
gen Kulturinteresfe notwendig. Die
pädagogische Möglichkeit ergibt sich
aus einer Analyse der hervorragen-
den Befähigung. Das Kennzeichnende
des Genies ist ein höherer Grad
von Phautasie — Phantasie im Ge-
gensatz zum Gedächtnis. Sie bringt
Neues hervor, noch nicht für das
betreffende Jndividuum Dagewesenes,
das Gedächtnis reproduziert Altes,
früher Erlebtes. Phantasie kennzeich-
net ebenso das wissenschaftliche, staats-
männische, organisatorische, technische
usw. Genie wie das künstlerische.
Sie allein läßt aber noch nicht Wert-
volles schaffen. Sie muß sich mit
zwei weiteren Eigenschaften paaren,
mit Jnteresse und Urteilsfähigkeit.
Phantasie ohne Jnteresse ergibt leicht
das verbummelte Genie, Phantasie
ohne Urteilsfähigkeit den Phantasten.
Urteilsfähigkeit wählt unter dem von
der Phantasie Dargebotenen das
Brauchbare und Wichtige aus. An
und für sich bringt die Phantasie
weit mehr Falsches als Richtiges
hervor. Urteilsfähigkeit beruht auf
tiefem Wissen, über das jedes Genie

tz Dezemberheft S8Z
 
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