Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1904)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: Vom Schenken: ein Strauß Binsenweisheiten
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0457

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
lichsten Träger eben der lebendigen Körperforrn und damit ihren
edelsten Träger. Jch wenigstens weiß nichts, was mich der Schöp-
fung Wert tiefinniger bewundern lehrte, als das Tiergeripp, dieser
in seinem Ganzen wie in seiner kleinsten Form die Erfüllung von
Lebenszwecken in ästhetischer Vollkommenheit bezengende Bau. Und
gar der Schädel, im Tempel das Heiligtum! Wie da alles trägt und
getragen wird, wie Form um Form Kraft um Kraft kennzeichnet,
sich in Kontrast und Harmonie verbindet und mit wunderreicher
Selbstverständlichkeit löst, was unsrer Plastik und Architektur Pro-
blem bleibt — das ist an allen Schädeln ausnahmelos überwältigend
für den, der es mit einiger Kenntnis der naturwissenschaftlichen Grund-
lagen überhaupt ästhetisch genießen kann. Vom Menschenschädel wag
ich nicht zu sprechen, weil das doch nur ein Stammeln würde.
Schon lange in der Reihe der „minderen Brüder" vor ihm wird
ja der Genuß zur Andacht.

Aber wohin kommen wir! Wer dürst' es denn heute wagen,
einen „Totenkops", stamm' er auch nur von Stier oder Pserd, unter
die Weihnachtsfichte zu legen? Mehr noch: Wer hätte ein Recht zu
klagen, wenn ein solches Geschenk nicht verstanden, wenn es nicht nur
als Wunderlichkeit oder Schrulle, nein, beinahe als eine Beleidigung
empsunden würde? Freude will der Beschenkte, mit vollem Recht,
Heiterkeit, und was so „asketisch" aussieht wie ein „Totenkopf", wie
viele müssen daraus die Schauer stärker als die erhebende Größe
fühlen? Wirklich, ich rate keinem, Schädel zu verschenken, der
nicht ganz genau Bescheid weiß, wem, worum und mit welchem
Risiko er sie schenkt!

Nein, daß aber selbst mit solchen „exorbitanten Sachen" in Aus-
nahmefällen Freude gestiftet wird, das erwähne ich aus eigener Er-
sahrung nur, um zu zeigen, bei welchen „Unmöglichkeiten" die Grenz-
steine im Reiche des Schenkbaren liegen. Wie viel größer ist dieses
Reich als das Märktlein der großen Menge! Und wie dehnt es
sich jedem, wenn er der feinen Netze im Gesamtorganismus Menschheit
bewußt wird, die Aederungen zwischen den einzelnen sind, von Lebens-
säften durchflossene Aederungen von Persönlichkeit zu Persönlichkeit!
Auch das Schenken ist ja Ausdruck, ist Sprache, und so kann's herab-
sinken zur konventionellen Phrase gleich dem „Hochachtungsvoll" und
„Küß die Hand" und sich hinaufsteigern bis zu der persönlichsten
Uebertragung des feinsten, das in uns lebt. Aber steigern nicht,
wenn wir uns in des Alltags Hast erst zwei oder vier oder acht
Wochen vor der Gelegenheit daraus besinnen: „Was schenk ich dem?"
Ueberhaupt nicht im Alltag. Es ist eine Kunst, die wie jede nur an
Festtagen kommt, an Feierstunden, in gesegneten Augenblicken. Es
verlangt Eingebung. Die Reformation des Schenkens, die wir wün-
schen, kann nie allgemein sein. Wer aber für sein Teil am Verinner-
lichen auch hier mitwirken will, dem könnt' auch der beste Praktikus
keinen bessern Rat geben als den selbstverständlichen: Nimm das
ganze Jahr über die gute Stunde wahr, wenn nicht zur Tat, so doch
zum Entschlusse. Und so müssen wir mit einer Binsenweisheit auch
schließen. A




Runstwart XVIII, 6
 
Annotationen