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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Dresdner, Albert: Von neueren Meistern
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0525

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kein anderer, als der jeder wahren, jeder schöpferischen Kulturarbeit:
es ist der, die in der Natur liegende Bestirnrnung zu erfüllen. Nintm
mich, so ruft die Natur dem Bauern zu; nimm mich, befruchte mich,
verwunde mich, bekämpfe meine Raubtierinstinkte und nötige mich,
dir meine Gaben zu spenden. Und der Bauer folgt diesem Rufe; er
ist der Erste, der den großen Kampf des Menschen mit der Natur auf-
nimmt und der Erste, der in diesem Kampfe den Sieg davonträgt.
Millets Bauer ist der königliche Bauer. Ans den Bewegungen seiner
Sämänner, seiner Baumfäller, seiner Kornschwinger spricht die Wncht
des Kämpfers, die Majestät des Siegers, die Herrschergewalt des seiner
Macht bewußten Herrn, die Würde des echten Kulturmenschen. Jn den
unendlichen Weiten der Erde und des Himmels ist die schlichte, derbe,
von der Arbeit gebeugte Gestalt des Bauern nicht verloren, sondern
Erde und Himmel blicken auf ihn und erkennen ihn als ihren Herrn
an. Diese Gestalt zeichnet sich vom Horizonte mit einer Erhabenheit
ab, die nur ein Sohn der Meeresküste oder der Ebene darstellen konnte.
Die Kultur hatte die menschliche Gestalt entstellt und entwürdigt:
Millet gab ihr wieder die ganze Ehre ihrer Größe und ihres Adels
zurück; Schande über das Jahrhundert, das nach dieser Offenbarung den
menschlichen Körper in der Kunst doch wieder der wüsten Gemeinheit
preisgab! Die Kultur hatte die Arbeit zu einer Sklaverei gemacht, die
den Menschen erniedrigte und verwüstete: Millet zeigte ihre Hoheit
und Heiligkeit. Dort war sie die Häßlichkeit, hier die Schönheit, dort
der Tod, hier das Leben. Teufelswerk war sie dort, das Hunderttausende
zu vertierten Proletariern herabdrückte; hier Sammlung, Heiligung,
Gottesdienst. Wenn die Glocken des Angelus fernher über die Ebene
zn dem Bauern drangen, so brauchte er sich nicht gewaltsam aus seiner
Arbeit zu reißen, um ihre Stimme zu verstehen. Der Gedanke an das
Geheimnisvolle, Unendliche, Unaussprechliche begleitete und durchdrang
all seine Arbeit; es sprach zu ihm aus der Erde, die sich weit um ihn
dehnte, und aus dem Himmel, der sich über ihm wölbte, aus der ersten
Vogelschar, die den kommenden Frühling meldete, und der Garbe,
die seine Sense schnitt. Er wußte, daß seine Arbeit einen andern Sinn
und Wert hatte, als den, für seinen Magen zu sorgen; sein Acker, den
hundert Generationen sür ihn bereitet hatten, und seine Kinder, die
hundert fernere Generationen ankündigten, verbürgten ihm die Un-
sterblichkeit des Menschengeschlechtes und seiner schöpferischen Kraft.
Millet sprach in seinen Bildern dieselben Wahrheiten aus, die etwa
gleichzeitig Carlyle und Ruskin der ungläubigen Welt verkündeten:
daß nämlich menschliche Arbeit ^kwas anderes sei, als ein Geschäft,
unternommen zum Zwecke des Geldwerts; daß ihr Gesetz nicht das
angeblich eherne, in Wahrheit tönerne Gesetz von Angebot und Nach-
frage, sondern das große und göttliche Gesetz der menschlichen Schöpfer-
kraft sei — sich in Werken erkennbar zu machen und der Natur ihre
Bestimmung abzuzwingen.

So schilderte Millet die Menschenklasse, die er am besten kannte
und am meisten liebte; und indem er den Bauern so schilderte, sand
er sich im Leben wieder zurecht. Jhn konnte fortab der Hexentanz der
modernen Kultur nicht mehr verwirren und nicht verblenden; er hatte
eine sichere Stellung ihr gegenüber und hatte in der Arbeit und dem



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