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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Dresdner, Albert: Von neueren Meistern
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0526

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Leben des Bauern einen festen Maßstab gewonnen, nach dem er sie be-
wertete. Er fragte: erkenne ich in dir Schauspieler, in dir Dichter, in
dir Kaufrnann, in dir Forscher, in dir Politiker die geduldige, trene
und fromme Arbeit des Bauern wieder, der für künftige Jahrhunderte
seinen Acker bestellt, den er von Jahrhunderten überkommen hat?
Erkenne ich in dir die Majestät seiner Arbeit, die Würde seiner Mensch-
lichkeit wieder? Erkenne ich in deinem Tun und Lassen die einfache Ver-
ständlichkeit seiner Lebensführung wieder? Millet ist der Erste, der uns
die Möglichkeit und den Weg gezeigt hat, die moderne Kultur zn über-
winden oder vielmehr sie zu einer wahrhaften Kultur umzugestalten,
indenl er uns die unverrückbare Anschaunng des Natürlichen, Tüch-
tigen, Fruchtbaren gab. Er wies uns an, unser von Unkrant, Trüm-
mern und Unrat entstelltes Erdreich zu sänbern und den ewigen
Mutterboden bloß zu legen, um ihn zu bebauen. Er gab dem von den
gewaltsamen Erschütterungen und Bewegungen der Kultur seekranken
modernen Menschen den festen Punkt, an dessen Betrachtnng sein Geist
wieder zu sich kommen und sein Gleichgewicht zurückfinden kann. Er
lehrte uns, daß der Bauer, und seien wir durch noch so viele Glieder von
ihm getrennt, immer und ewig der Flügelmann der Kultur bleibt,
nach dem wir blicken müssen, soll die Marschlinie der Menschheit die
rechte Richtung innehalten.

(Meunier und der Arbeiter)

Meunier, an Ernst des Denkens, an §kraft der Liebe und Adel
der Seele Millet innerlich Verwandt, sah sich vor ein ähnliches Problem
gestellt, wie er. Jn einem von der modernen Jndustrie beherrschten
Lande lebend, fand er sich durch die ihr entspringenden Erscheinungen
des Volkslebens tief beunruhigt und verwirrt. Er sah eine aufsteigende
Volksklasse, die Kraft und Zukunft in sich sühlte und die doch nicht
recht begrifs, worin eigentlich ihre Kraft lag und welcher Art sie war,
die sich selbft nicht verstand und darum auch von den andern nicht ver-
standen wurde. Er sah sein Volk zerrissen, gelähmt, aufs äußerste
gesührdet, sah das ganze soziale Leben durch die Atmosphäre blinden
Hasses, wie durch den heißen Wind der Wüste versengt. Er sah die Tage
des Turmbaus zu Babel wiedergekehrt, da keiner den andern verstand,
und er suchte aus diesem furchtbaren und unerträglichen Chaos den
Weg der Zukunft, der der Weg der Liebe ist. Er unternahm es, den
jüngsten aller Stände, den des modernen Jndustriearbeiters, in dem-
selben Lichte zu zeigen, in dem Millet den ältesten Stand, den Stand
des Bauern, geschildert hatte. Er zeigte den industriellen Arbeiter in
seiner Arbeit, in seiner Größe. Meuniers Arbeiter sind keine Jammer-
kerle, die uns ihre Schwären zeigen und unser Mitleid anwinseln;
es sind markige, mächtige Männer, die uns hocherhobenen Hauptes,
als wahrhaft Gleichberechtigte, im Bewußtsein ihres Wertes nnd ihrer
Leistung entgegentreten. Jhre Glieder zeigen die Krast, neue starke
Generationen zu erzeugen; ihre Züge zeigen den Ernst und die Hoheit
derer, die die Gesahren ihres Berufs kennen und bereit sind, wenn nötig,
in den Opfertod zu gehen. Wenn sich Meuniers Arbeiter vor den
Bauern Millets durch die mächtigere Leidenschaft und das tiefere Fener
ihres Wesens, durch die stärkere Anspannung ihrer körperlichen und

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