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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Dresdner, Albert: Von neueren Meistern
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0533

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Denn in Klingers Beethoven ist das Problem mit einer Schärfe gefaßt,
wie nie zuvor; und diefe Schärfe der Fassung allein beweist fchon, wie
viel klarer, tiefer und reifer die Künstler über die große Aufgabe, die
ihnen gestellt ist, zu denken gelernt haben, wie viel freier sie ihr
bereits gegenüberstehen, als noch Böcklin ihr gegenüberstand. Jst doch
der Gegenstand, den fich Klinger erwählt hat, kein anderer, als die
! Darstellung des schöpferifchen Menfchen, des Menfchen als lebenerzeu-
! genden Gestalters und Künstlers, und fomit die Darstellung Gottes im
>' Menfchen und Künstler. Jn den letzten anderthalb Jahrhunderten ist
die Welt Zeuge des großartigen Schauspiels geworden, wie eine Kunst,
deren Kraft ruhte oder fich doch nur spielend betätigte, plötzlich eine
! ungeahnte und ungeheure Schöpferkraft entfaltete, wie sie ein neues
! Leben, neue Tiefen der Seele und neue Höhen der Weihe entdeckte,

^ wie sie ein neues Band des Verständnisfes und der Liebe um die Völker
wand und die Deutschen allen Nationen verehrungswürdig machte.
Diese Kunst ist die Musik; und der Held, der im Mittelpunkte dieser
ihrer großen Epoche steht, ist Beethoven, dem, wie Michelangelos
Gottvater in der Sixtinischen Kapelle, die Gabe verliehen war, alles
zu beleben, was er mit feinem Finger berührte, der den Menschen
neue Vorstellungen vom Ernste und von der Heiterkeit, vom Kampfe
und vom Siege, vom Leide nnd von der Liebe fchenkte, der als ein echter
Zeus die Giganten der Leidenschaften siegreich bekämpfte und als ein
! echter Christ Jesu Liebeslehre neu erschloß, indem er die Menschen durch
die Macht feiner Töne einander in einem neuen Sinne erkennen und
lieben lehrte. Diesen großen Schöpfer hat Klinger in der fchweren
Stunde der künstlerischen Geburt gefchildert. Der Willen ist bis zum
äußersten angespannt, die Hände ballen sich, die Augen blicken un-
beweglich in den Raum, in dem er, noch fchwankend und körperlos, die
Gestalten seiner Phantasie erblickt, die er in Form und Dasein zwingen
will, denen er fich unwillkürlich entgegenneigt. Noch ein Augenblick —
und das Schöpferwerk ist vollbracht; die geballten Hände lösen fich
zu befehlendem Winke, die Gestalten gehorchen und steigen aus dem
Reiche des Wesenlosen auf, um fortab ewig zu leben im Lichte, und
der' Adler, der flugbereit, des Befehles des Meisters gewärtig zu
seinen Füßen kauert, wird die Botschaft seines Geistes hinaustragen
zu der harrenden Menschheit. So, meine ich, stand Beethoven Klinger
im seligen Augenblicke der künstlerischen Empfängnis vor der Seele:
ein gewaltiger Kämpfer und ein herrlicher Sieger, ein Gott, der aus
der Tiese feiner Leiden das höchste Glück fchafft. Aber ach! auf dem
weiten Wege von der Empfängnis bis zur Geburt ist dem Geschöpfe des
Künstlers das helle Siegerlächeln verloren gegangen, und es ist in die
Welt der harten Wirklichkeit unserer Tage hineingezogen worden.
Wir glauben und fehen den langen Leidensweg, den der schöpferische
Künstler durchmacht von dem Augenblicke, da die göttliche Eingebung
in ihm aufspringt, bis zu dem, da er einen letzten wilden Kampf mit
den ihm immer wieder entgleitenden Gestalten führt, die er bannen will.
Aber kein Zug in dem Werke führt uns aus dem Leid der Gegenwart
auf das Glück der Zukunft, keiner läßt uns hoffen und vertrauen, daß
im nächsten Augenblicke alle Bitterkeit, Härte, Qual, Verzweiflung von
dem Meister abfallen und er als göttlicher Sieger im strahlenden Glanze



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Runstwart XVIII, 7
 
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