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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 7 (1. Januarheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0536

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man im Augenblick immer voll aufgeht. Die Sache kommt mir beinahe
vor, als wenn ein urweltlicher Poet aus der Zeit, wo die Religionen und
Gvttersagen wuchsen und doch schon vieles erlebt war, heute unvermittelt
ans Licht träte und seinen mysteriösen und großartig naiven Gesang an-
stimmte." Wer war's, der das schrieb? An I. V. Widmann schrieb's
Gottfried Keller. Er schrieb's über „Prometheus n:rd Epimetheus",
das erste Werk „Felix Tandems", von dem die Leser des Kunstwarts auch
seinerzeit eine Probe (Kw. XII, (l) erhalten haben. Wie Schönes das
Jugendwerk enthält, das Manneswerk ist viel reifer, farbiger, lichter, stürker
nnd freier, nnd gilt auch bei ihm von diesen Kellerschen Worten ein
jedes, so hätt' es der Meister von Zürich vor dem „Frühling" doch sicherlich
noch „in höherem Ton" gesagt. Der letzte Satz Kellers aber ist heut noch
das beste, was einer über Spitteler lesen kann. Es lebt kein ursprüng-
licherer Dichter unter uns als dieser. Keine Kleinigkeit in all seinen
Werken, die als eine Nachahmung Böcklins gedacht werden könnte, aber
jede Seite erweist die Urverwandtschast zwischen beider Poesie. Jn diesen
Gehirnen verdichtet die Landschaft sich, die eignen Gedanken verdichten sich,
das alles ballt sich zusammen und alles zeugt ineinander, der Odem des
Persönlichen behaucht's, da ist ein neues Lebewesen da und von der Antike
sliegt ein Name dazu. Was alles Spitteler bis zum Aller-Abstraktesten
hin, und wie selbstverständlich-unwillkürlich er's gestaltet — das hat in
der ganzen Literatur der Gegenwart, weit über die deutsche hinaus, kaum
seinesgleichen. Und ebensowenig hat das seine unbekümmerte Naivitüt.
Den Begriff Anachronismus z. B. kennt er nicht. Gefüllt mit allem Gehalt
der modernen Kultur greist sein Geist aus der Antike nnd aus allen Zeiten
der Menschheit diejenigen Ewigkeitswerke heraus, die auch in ihm lebendig
sind, und er verschmilzt das Aelteste und Fernste so unbekümmert mit dem,
was in und was um ihn lebt, wie ein Rembrandt die Gestalten Christi und
seiner Jünger mit dem Holland der eignen Zeit. Es ist ein unerhört freies
Schassen und eben deshalb ganz und gar ein Schaffen. Anfangs wohl
verstutzt, langsam erst entwirrt, fühlt der Spitteler noch sremde Leser viel-
leicht nur nach und nach, welcher Saft des Lebens sich damit in uns
ergießt.

Was es mit dem Epikertum auf sich hat, davon will ich heute nicht
sprechen, zumal das Spitteler selber seinerzRt getan hat. Ob der „Olym-
pische Frühling" in Anlage und Komposition ein gutes Epos sei, möglich,
darüber würden die Theoretiker streiten. Daß der Geist dieser Dichtung
episch ist bis ins letzte, darüber wird keiner streiten. Da ist kein verweilendes
Sinnen und Betrachten noch ein Ausschöpfen und Austönen von Gefühl,
sondern ein heroischer Zug von einsach großen Gefühlen schreitet an uns
'vorüber. Besser: Jn einem Zuge von Gesichten schreiten wir selber mit
Blumen unter dem Fuß oder Fels oder Wüstensand, große Ausblicke nach
allen Seiten, und um uns ein Geschwirr von Körper- und Seelenstimmen,
die bald ans Weiten her in unsre Welt hineinhallen, bald Geschwister-
stimmen sind zu den antwortenden in unsern eignen Herzen. Auch ihre
Sprache — hier hart, dort weich, kühn, ja keck und sehr gewagt und immer
cigenwüchsig schweizerisch-spittelerisch — verlangt erst, daß wir uns an sie
gewöhnen. Sie hat uns so viel des Hohen und Tiefen zu sagen, daß es
schwer anszuhalten wäre, wenn dis Klage jammerte und der Jubel gellte,
wenn der mitgerissene Poet uns mit Leid und Freude seines Werkes patho-

s. Fanuarheft 48Y
 
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