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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 18,1.1904-1905

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Heft 8 (2. Januarheft 1905)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.8192#0604

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motivieren, mit andern Worten: zu zeigen, wie dieser Bund, der im weisen
Kopf eines gütigen Greises, nicht aber freiwillig in den Herzen der Gatten
selbst geschlossen wnrde, in seinen Grundlagen krank, zusammenstürzen mußte,
sobald einc unbeeinslußte, ursprüngliche Leidenschaft oder sonst eine elemen--
tare Gefühlsmacht daran rüttelte. Man kann der beste, liebevollste Sohn
sein; aber mit aller Pietät verdient man sich noch nicht die Liebe und
Treue eines jungen heißen Herzens, dessen Gefühle noch in unerschlossener
Knospe schlummern. Dem alten Manne durfte der arme Edelmann, der
sein Ein und Alles, sein Leben und seine ganze Zukunft zu opfern ent-
schlossen, um die Ehre seines Vaters zu retten, wohl der zuverlässigste
Schatzhüter dünken für seine Tochter, das Köstlichste, was er selbst besaß;
sie selbst mochte dem vom Glorienschein edelster Sohnesliebe Umstrahlten
für einen Augenblick mit ihren reinsten Empfindungen fich schenken — das
Leben versagte dem Zufalls- und Verstandesbunde seinen Segen doch, und
die tragische Wendung war da. Der Titel des altenglischen Stückes schon
deutete auf diese Motivierung hin. Beer-Hofmann ist daran vorüberge-
gangen; unter dem Personenverzeichnis seines Trauerspieles steht die Regie-
bemerkung „Zwischen dem dritten nnd vierten Akte verfließen drei Jahre."
Der Jnhalt gerade dieser drei Jahre aber ist es, den nns der moderne Dichter
hätte zeigen nnd miterleben lassen müssen. Vielleicht weist Beer-Hofmann
auf seiil Vorbild, wo beides, Stern nnd Unstern des Grafen von Charolais,
genau so hart, womöglich noch unvermittelter nebeneinander stehen wie
bei ihm. Aber jede Zeit hat ihre eigenen poetischen Rechte und Pflichten.
Die elisabethanische ersetzte durch Fülle des bloßen Geschehens, durch Bunt-
heit, Bewegtheit und Vielgestaltigkeit der üußeren Handlung manches, wo
wir ins Jnnere der Menschen dringende Psychologie verlangen. Keine noch
so begeisterte Bewundernng schafft uns die Tage Shakesperes und Massingers,
seines jüngeren Zeitgenossen und Schülers, zurück; wir sitzen an eigenem
Webstuhl und müssen Gebilde wirken, die dem Leben entsprechen, wie wir
es sehen und empfinden. Mit einem kecken „So waren jene Frauen", die
Frauen in jenen im Vergleich zu den unsern halbbarbarischen Tagen: sie
führten drei Jahre lang eine Ehe in Ehren und liefen dann an heimlichem
Winterabend mit einem girrenden Liebhaber dem Manne davon, mit einem
solchen Appell an die Historie ist es nicht getan. Wir wollen sehen und
erleben, wie diese einzelne, die der Dichter uns vorführt, wie diese Dssirße
von Charolais, Tochter des Präsidenten Rochfort, so wurde, und weshalb
sie so handeln mußte, mögen die Stimmung der Stunde und der Charakter
der Zeit immer ihren Anteil haben an der Schuld. Beer-Hofmann hat
Schönheiten über Schönheiten ausgestreut, um die Sorge des Vaters, der
die keuschs Seele seiner Tochter nicht der begehrlichen Liebe der Männer
ausliefern möchte, aus seinen persönlichen Schicksalen zu motivieren und
im reinsten, weihevollsten Lichte erglänzen zu lassen; er hat die Verführungs-
szene selbst in eine so schwelgerische Leidenschaftsglut und in eine so weiche,
schmeichlerische Poesie getaucht, daß wir von dem heißen Atem der Verse
für den Augenblick mit fortgerissen werden — dann aber erhebt sich um so
drohender und strafender die Frage: wie ist es möglich, daß sich diese
Frau, die dem Grafen so rein und keusch ihre Hand bot, von einem her-
gelaufenen Schönling, der sich am dämmerigen Kamin mitleidbettelnd zu
ihren Füßen wälzt, im Handumdrehen zur schmutzigsten Untreue und noch
dazu am schmutzigsten Ort, im verrufenen Wirtshaus des Ortes, verführen

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